Der Druck steigt
Es war anfangs nicht klar, ob der Drohnenangriff auf die US-Truppen Ende Januar tatsächlich auf jordanischem Territorium erfolgte oder doch in Syrien. Klar aber war sofort, dass drei Amerikaner getötet und über 30 verletzt wurden. Es waren die ersten US-Todesopfer im Rahmen der seit Monaten andauernden Angriffe der vom Iran unterstützten Milizen auf amerikanische Soldaten im gesamten Nahen Osten.
Eine Miliz im Irak bekannte sich zu der Attacke und erklärte, sie hätte vier US-Militärbasen angegriffen, davon drei in Syrien und den Außenposten Al-Tanf. Der Nordosten Jordaniens grenzt sowohl an Syrien als auch an den Irak. "Islamischer Widerstand“ nennt sich dieser Zusammenschluss pro-iranischer Milizen, die diejenigen Länder bekämpfen, die Israel im Kampf gegen die Hamas in Gaza unterstützen.
Bislang ist es Jordanien gelungen, eine Balance zwischen den verfeindeten Parteien rund um diesen Krieg hinzubekommen. König Abdullah II. und Königin Rania tun alles, um die Lage in ihrem Land nicht auch noch eskalieren zu lassen. Das Paar selbst spiegelt diese Balance wider: Abdullah ist alteingesessener Jordanier, seine Frau Rania Palästinenserin.
Dem König fehlt es an politischem Geschick
In Jordanien sind sowohl US-amerikanische Soldaten als auch deutsche stationiert, die vom haschemitischen Königreich aus den "Islamischen Staat“ (IS) im Irak und Syrien bekämpfen.
Schon früher wurde das Land weitgehend vom Terror und von den Kriegen seiner Nachbarn verschont. Al-Qaida konnte dort nie Fuß fassen und auch der IS verübte nur eine einzige Gräueltat an Jordaniern, als er einen jungen Kampfpiloten der jordanischen Armee bei lebendigem Leibe verbrannte.
Fragt man in Amman nach, wie diese Balance zustande kommen konnte, hört man immer wieder, dass die jordanischen Sicherheitskräfte erheblichen Anteil daran hätten. Ihr Netz an Informanten sei so dicht gespannt wie in keinem anderen Land der Region.
Amer Al Sabaileh ist Konfliktforscher, Professor an der jordanischen Universität und Sicherheitsexperte. Er attestiert dem König viel militärisches Wissen. Abdullahs Fokus läge auf Sicherheit und Stabilität, sagt der gefragte Gesprächspartner jordanischer und internationaler Medien. Politisches Geschick fehle dem König dagegen, fügt Sabaileh kritisch an. So habe der Monarch kein einziges Mal Israel besucht, obwohl Jordanien als zweites Land nach Ägypten 1994 einen Friedensvertrag mit dem Nachbarstaat unterzeichnet hat.
Die Emirate regeln den Kontakt mit Israel
Bei der Suche nach einer Lösung für Palästina spiele Jordanien deshalb keine Rolle, meint Sabaileh, obwohl das Land eigentlich gehört werden müsste. "Wenn der König mit einem Mitglied der israelischen Regierung sprechen will, bittet er die Emirate um Vermittlung.“
Seit der Unterzeichnung der sogenannten Abraham-Abkommen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten im September 2020 (Bahrain, Sudan und Marokko schlossen sich später an) hätten die Golfaraber immer mehr Einfluss auf Israel gewonnen. Jordaniens Einfluss dagegen sei minimal. Doch die jetzige Situation macht Sabaileh nervös: "Wenn das mit Palästina so weitergeht, wird es in Jordanien Chaos geben.“
Jordanien ist besonders nah am Krieg zwischen Israel und der Hamas. Während der Fokus der westlichen Berichterstattung derzeit eher auf Gaza liegt, kocht die Situation im Westjordanland weiter hoch. Angriffe radikaler Siedlermilizen auf palästinensische Bauern haben zugenommen. Jordanien ist sehr besorgt angesichts der Eskalation vor seiner Haustür. Der Druck auf seine Grenzen wächst, je mehr sich die Situation im Westjordanland zuspitzt.
Das zehn Millionen Einwohner zählende Land hatte bereits nach der ersten Vertreibung im Jahr 1948 Hunderttausende Palästinenser aufgenommen, insgesamt sollen es 2,3 Millionen sein. Sie alle haben inzwischen die jordanische Staatsangehörigkeit.
Auch wer im Sechs-Tage-Krieg von 1967 fliehen musste, ist eingebürgert worden. Danach war Schluss. Mehr konnte und wollte Jordanien nicht verkraften. Palästinenser, die danach kamen, haben befristete Aufenthaltspapiere. „Wenn das Westjordanland explodiert, haben wir ein noch größeres Desaster als mit Gaza“, sagte der jordanische Außenminister Ayman Safadi bei einem Interview mit der BBC.
Mehr Gewalt im Westjordanland
Ahmed Qatish ist gerade aus Tulkarem im Westjordanland über die Allenby-Brücke und den Jordan nach Amman gekommen. 44 Stunden lang hätte die israelische Armee seine Stadt belagert, sei von Haus zu Haus gegangen, habe Razzien durchgeführt, berichtet er.
Auch in Bethlehem, Jenin, Nablus und Jericho, in fast jeder Stadt im Westjordanland rückten derzeit Soldaten ein und durchkämmten die Häuser. Sieben Tote habe seine Stadt zu beklagen, sagt Ahmed, die Verletzten habe niemand gezählt.
Um nach Amman zu kommen, musste der 25-jährige Palästinenser unzählige Checkpoints der israelischen Sicherheitskräfte überwinden, obwohl er eigentlich nur durch das palästinensische Autonomiegebiet gefahren ist.
"Sie quälen uns, verhaften uns willkürlich, schlagen uns, erniedrigen uns, wie es ihnen gefällt”, sagt er. Ahmed nimmt einen Schluck von dem türkischen Mokka, der hier wie im gesamten Nahen Osten in winzigen Tassen gereicht wird und entweder sehr süß oder ganz ohne Zucker serviert wird.
"Die Siedler sind die schlimmsten“, sagt Ahmed, der an der Technischen Universität in Tulkarem seinen Abschluss gemacht hat. Doch es gibt keine Arbeit derzeit im Westjordanland, die Läden seien zum großen Teil geschlossen. Einzig über Telegram könnten die Palästinenser im Westjordanland derzeit sicher kommunizieren.
Alle anderen sozialen Medien wie Facebook oder WhatsApp würden von Israel überwacht. "Die Siedler wollen uns vertreiben und werden immer aggressiver“, sagt Ahmed bitter. "Sie gehen auf uns los, oft mit Waffen und scharfer Munition und die Sicherheitskräfte schauen zu.“
Die Angst der Autokraten vor pro-palästinensischen Demos
Im Nahen Osten erinnern die Kundgebungen für die Palästinenser an die Proteste des Arabischen Frühlings. Nun befürchten die autoritären Führer der Region, dass der Konflikt in Gaza ihre eigene Macht gefährden könnte.
Auch für Ägypten ist die Lage heikel
Was Qatish berichtet, deckt sich mit Informationen der Vereinten Nationen. Schon vor dem Hamas-Massaker war 2023 das blutigste Jahr im Westjordanland seit der Zweiten Intifada (2000 bis 2005). Mit dem Überfall der Hamas habe sich die Lage noch verschärft, so das UN-Menschenrechtsbüro OCHA. Tausende Palästinenser seien in dem im Sechs-Tage-Krieg 1967 von Israel besetzten Westjordanland aus ihren Häusern vertrieben worden.
Anders als im Gazastreifen, aus dem die israelische Armee 2005 abgezogen ist und mit ihr auch 9000 Siedler, trieb die israelische Regierung den Bau von Siedlungen im Westjordanland systematisch voran.
Auch für Ägypten wird die Lage immer heikler. Ägypten hat eine Grenze zum Gazastreifen, mit Rafah als einzigem Grenzübergang, über den Hilfsgüter in den Gazastreifen gelangen.
Während die Kämpfe am Anfang des Krieges im Norden des mit über zwei Millionen Menschen sehr dicht besiedelten Landstrichs stattfanden, bombardiert die israelische Armee jetzt immer mehr den Süden um das Flüchtlingslager Khan Junis.
Dort vermutet sie Yahya Sinwar, den Drahtzieher hinter dem Massaker der Hamas an über 1.200 Israelis am 7. Oktober. Sinwar soll den Befehl zum Angriff gegeben und auch die Geiselnahme initiiert haben. Sollten die Kämpfe in Khan Junis mit der derzeitigen Intensität weitergehen, bleibt für die Menschen dort nur noch ein Ausweg: Flucht über die Grenze nach Ägypten. Aber was wird Ägypten tun, wenn plötzlich eine Million Palästinenser den Grenzübergang stürmen?
In Kairo ist man ratlos
In Kairo ist man ratlos oder hält sich mit der Antwort bedeckt. Auf die Palästinenser schießen käme aus moralischen Gründen nicht in Frage. Auch in Ägypten gibt es immer wieder Demonstrationen für die "Brüder und Schwestern im Gazastreifen“.
Doch nachdem bei den Protesten auch Stimmen forderten, Militärmachthaber Abdel Fattah al-Sisi solle abtreten, wurden die Demonstrationen kurzerhand verboten. Seitdem bemüht sich der Diktator am Nil um Verhandlungen mit der Hamas und Israel mit dem Ziel, Geiseln und Gefangene auszutauschen. Mit mäßigem Erfolg.
Unterdessen fand in Jerusalem eine Konferenz israelischer Politiker zur Wiederbesiedelung des Gazastreifens statt. Unter den Teilnehmern war auch der rechtsextreme Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir, der eine Rückkehr jüdischer Siedler in den Gazastreifen nach Kriegsende forderte.
Ben-Gvir rief dazu auf, die palästinensische Bevölkerung zu "ermutigen, in andere Länder der Welt auszuwandern“ und folgte damit einem ähnlichen Aufruf seines ultrarechten Kabinettskollegen Bezalel Smotrich.
Diese Forderungen sind sowohl von arabischen Staaten als auch von den USA, Israels wichtigstem Verbündeten, kritisiert worden. Israels Verteidigungsminister Joaw Gallant will seiner Armee jedoch "Handlungsfreiheit im Gazastreifen“ sichern, um jede mögliche "Bedrohung“ im Keim zu ersticken.
Während also noch hin und her überlegt wird, was mit dem Gazastreifen geschehen soll, schafft die israelische Armee Tatsachen und drängt immer mehr Palästinenser in Richtung Grenze zu Ägypten.
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