Entspannung zwischen Indien und Pakistan?
Noch Anfang 2019 standen die Zeichen auf Krieg zwischen den beiden Nuklearmächten Indien und Pakistan. Nach einem Anschlag auf einen Militärkonvoi im indisch kontrollierten Kaschmir flog die indische Luftwaffe Anfang 2019 Bombenangriffe auf ein vermeintliches Terrorlager in Pakistan. Trotz der indischen Propaganda, man habe beim Angriff hunderte von Extremisten getötet, entpuppte sich der Angriff als Fehlschlag. Die Bomben hatten ihr Ziel deutlich verfehlt und landeten im Wald. Im Gegenzug flog die pakistanische Luftwaffe Angriffe auf den indischen Teil Kaschmirs, schoss bei Luftkämpfen einen indischen Kampfjet ab und nahm dessen Piloten gefangen.
In einem medial inszenierten Akt übergab Pakistan einige Tage später den abgeschossenen Piloten an Indien. Auf der Line of Control, der De-facto-Grenze zwischen den beiden Ländern in Kaschmir, lieferten sich Soldaten beider Länder heftige Gefechte. Internationaler Druck konnte eine weitere Eskalation der Gewalt zwar verhindern, die Spannungen zwischen den beiden Nachbarn hielten dennoch an. Die Aufhebung des Sonderstatus von Kaschmir im August 2019 durch die indische Regierung verschärfte zusätzlich die Situation. In beiden Ländern sahen Menschen wenig Hoffnung auf Frieden.
Vor diesem Hintergrund kam es für viele überraschend, als im März 2021 eine Waffenruhe ngekündigt wurde und der pakistanische Armeechef Bajwa in einer Rede Indien dazu aufrief, die “Vergangenheit zu begraben und nach vorne zu schauen”. Wenig später schickte der indische Premier Modi Glückwünsche zu den Feierlichkeiten des pakistanischen Nationalfeiertags an seinen Amtskollegen Imran Khan.
In einem Interview kurz danach ließ der pakistanische Außenminister verlautbaren, Pakistan sei zu weitreichenden Verhandlungen bereit, wenn Indien einige Änderungen im Autonomiestatus von Kaschmir wieder zurückziehe. Trotz martialischer Rhetorik der vorausgegangenen Monate war damit eine Phase der Entspannung eingeleitet. Warum aber der plötzliche Sinneswechsel?
Geheimdiplomatie und Strategiewechsel
Dies mag an mehreren Faktoren liegen. Zum einen scheinen die Diplomaten der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) im Sinne einer Deeskalation des Konflikts im Hintergrund aktiv gewesen zu sein, so jedenfalls behauptete es der Botschafter der Emiraten in den USA. Und tatsächlich scheint es durch Vermittlung der VAE zwischen Indien und Pakistan Verhandlungen gegeben zu haben. Die Emirate pflegen traditionell zu beiden Ländern gute Beziehungen. Es gibt aber auch Anzeichen für ein Strategiewechsel beider Länder, vorerst zumindest. Sowohl Indien als auch Pakistan haben andere Herausforderungen im Fokus als den ewigen Streit mit dem Nachbarn.
Für Indien hat in den letzten Jahren der Konflikt mit China an der nördlichen Grenze an Bedeutung gewonnen. Der Verlauf der Grenze zwischen China und Indien war schon immer umstritten und führte 1962 zum ersten indisch-chinesischen Krieg. In einem relativ kurzen Krieg erlitt die indische Armee damals eine Niederlage und verlor Aksai Chin, eine Grenzregion zwischen dem indischen Kaschmir und Tibet an die Chinesen. Nach mehreren Verhandlungen wurde ein stillschweigender Status Quo an der Line of Actual Control (aktuellen Grenzlinie) erreicht, an den sich beide Länder in den nächsten Jahrzehnten weitestgehend hielten.
Der Bau von Straßen und Militärbasen an der umstrittenen Grenze, sowohl von Indien als auch China, hat den Konflikt neu entfacht. Immer wieder werfen sich beide Länder gegenseitig Grenzverletzungen vor. Der Neubau einer Straße an der Grenze zu Aksai Chin brachte das Fass dann zum Überlaufen. China beansprucht das Gebiet für sich. Für Indien dient die strategisch wichtige Straße als Nachschubroute für die neue Luftwaffenbasis Dolat Beg Oldie im Norden Kaschmirs. Am Galwan-Fluss lieferten sich im Juni 2020 Soldaten beider Armeen Schlägereien mit Fäusten und Knüppeln.
Dutzende Soldaten beider Seiten starben im ersten größeren Grenzkonflikt seit den 1960er Jahren. Auch an anderen Abschnitten der über 3000 Kilometer langen Grenze gibt es immer wieder Streit über die Grenzziehung. Für Indien hat sich längst China zu einer weit größeren Herausforderung als Pakistan entwickelt. Viele indische Analysten hatten bereits in den letzten Jahren die übermäßige Konzentration des Militärs und der Ressourcen auf die Westgrenze zu Pakistan als einen taktischen Fehler kritisiert.
Denn in dieser Zeit konnte China ohne größere Probleme seine militärische Infrastruktur entlang der Grenze zu Indien ausbauen und sich so einen strategischen Vorteil verschaffen. Um diese Entwicklung auszugleichen, muss Indien nun seine Ressourcen umdisponieren und seine geopolitische Strategie neu ordnen. Militärisch ist Indien den Chinesen sicherlich noch weit unterlegen.
Die USA bestärken Indien in diesem Konflikt zur Eindämmung chinesischer Ambitionen, die bekanntlich von Washington als die größte Herausforderung ihrer weltweiten Hegemonie bewertet werden.
Hinzu kommen die katastrophalen Folgen der Coronapandemie für Indien. Mit Millionen von Infizierten, einem kollabierenden Gesundheitssystem und noch unabsehbaren wirtschaftlichen Folgen der Pandemie, hat die Regierung von Premierminister Modi ganz neue innenpolitische Herausforderungen zu bewältigen. Kritik am Krisenmanagement der BJP- Regierung wächst und bei den Wahlen drohen den Hindu-Nationalisten wohl größere Niederlagen. Ein Konflikt mit Pakistan würde die Lage nur noch verschärfen.
Neue Herausforderungen für Pakistan
Aber auch für Pakistan hat sich die Situation verändert. Zwar hält Pakistan an seiner traditionellen Position in der Kaschmirfrage fest, dennoch scheint es ein Umdenken in mehrerlei Hinsicht gegeben zu haben. Zum einen möchte Pakistan die sogenannten Northern Areas von Gilgit-Baltistan als reguläre pakistanische Provinz anerkennen. Dies wäre ein weitreichender Schritt und ein Abrücken von den UN-Resolutionen, dessen Erfüllung Pakistan vehement einfordert.
Zwar hatte 1949 die Regierung von Azad Kaschmir (dem pakistanischen Teil Kaschmirs), Gilgit-Baltistan der pakistanischen Zentralregierung übergeben, von der es seitdem verwaltet wird, dennoch gehört es offiziell zu der umstrittenen Region Kaschmir, auf die sich die UNO-Resolutionen beziehen.
Die Bevölkerung von Gilgit-Baltistan hat bereits lange eine Anerkennung als reguläre pakistanische Provinz gefordert, doch zögerten pakistanische Regierungen, diese Forderung umzusetzen, weil sie damit eine Schwächung ihrer Position in der Kaschmir-Frage befürchteten. Im November 2020 ließ die pakistanische Regierung dann bekunden, sie wolle Gilgit-Baltistan als eine eigenständige pakistanische Provinz anerkennen.
Neben der Forderung der lokalen Bevölkerung spielt die Zementierung des strategischen China-Pakistan Economic Corridor (CPEC), einer Reihe von Infrastrukturprojekten im Landkorridor zwischen Pakistan und China. CPEC verläuft über Gilgit-Baltistan nach China. Mit einer Anerkennung der Region als eigenständiger pakistanischer Provinz wäre die territoriale Frage des Gebietes für Pakistan entschieden und damit seine zukünftigen Wirtschaftsinteressen geschützt.
Zusätzlich zum CPEC rückt mit dem Abzug der Amerikaner vom Hindukusch, Afghanistan wieder in den Fokus Pakistans. Einen Bürgerkrieg oder eine unstabile Regierung in Kabul sieht Islamabad als eine Bedrohung für die regionale Stabilität. Pakistan hatte lange die Taliban als Stakeholder im afghanischen Machtgefüge unterstützt und wird auch in der post-amerikanischen Ära versuchen, auf sie Einfluss zu nehmen. Bis in die 1990er Jahre spielte noch die Militärdoktrin von Strategic Depth eine wichtige Rolle für die pakistanischen Strategen. Die Doktrin sah in Afghanistan ein Rückzugsgebiet für pakistanische Militäreinheiten, sollte Indien mit Bodentruppen in Pakistan einmarschieren und den Osten des Landes besetzen.
Auch wenn diese Doktrin aus heutiger Sicht überholt ist, sieht Islamabad in Afghanistan die Möglichkeit den Transithandel und den Zugang zu neuen Märkten in Zentralasien auszuweiten. Die zentralasiatische Republik Tadschikistan ist nur durch den schmalen afghanischen Landstrich des Wachankorridors von Pakistan getrennt. Am Hafen von Gwadar bietet Pakistan den zentralasiatischen Ländern einen Zugang zum Meer und den Anschluss an den weltweiten Handel an. Für den Ausbau solcher Handelsrouten ist aber Stabilität in Afghanistan eine entscheidende Voraussetzung.
Noch in diesem Jahr will die pakistanische Regierung deshalb Handelsabkommen mit Afghanistan und anderen zentralasiatischen Staaten finalisieren. Dieser Schritt wird der maroden pakistanischen Wirtschaft sicherlich zu Gute kommen. Ein “heißer” Konflikt an der Ostgrenze zu Indien wäre in dieser Situation kontraproduktiv, während eine Entspannung des Konflikts mit Indien Pakistan genau gelegen kommt.
Kurzum, die geopolitische Lage zwingt beide Rivalen zum Umdenken. Ob die versöhnlichen Töne aber tatsächlich zu einer längerfristigen Entspannung führen, werden die nächsten Monate zeigen.
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Mohammad Luqman hat am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien der Universität Marburg Islamwissenschaft mit einem besonderen Forschungsschwerpunkt auf Islam in Südasien studiert. Er promoviert zurzeit an der Universität Frankfurt zum Verhältnis von Religion und Nationalismus in Pakistan.