Die sieben Sünden der ägyptischen Opposition
Wenn ich hier von Opposition spreche, meine ich sie in ihrer Gesamtheit von ganz rechts bis ganz links, oder zumindest die, die eine Veränderung über friedlichen Kampf anstrebt, ohne in die Falle der Ausgrenzung und der Spaltung auf ideologischer Grundlage zu tappen. Seit dem Beginn des Aufstandes im Januar 2011 bis heute hat diese Opposition viele Fehler gemacht. All diese Fehler hatten ihre Gründe und Hintergründe, doch diese im Einzelnen zu erklären ist hier nicht der Raum.
Die erste Sünde: Die ersten Fehler beging die Opposition bereits in den ersten Tagen des revolutionären Aufstandes im Januar 2011. Unmittelbar nach dem Rücktritt Mubaraks und der Hinnahme des sanften Putsches gegen ihn rief die Opposition zur Räumung des Tahrir-Platzes in Kairo auf, ohne dass es eine Einigung hinsichtlich der nächsten Schritte gegeben hätte und ohne ein Bewusstsein dafür, dass die Tahrir-Besetzung ein echtes Druckmittel zur Verwirklichung der Ziele des Aufstandes war.
Die leichtfertige Aufgabe des Platzes war so etwas wie die erste Kugel, die den Aufstand traf. Wären die Menschen auch nur eine Woche lang nach Mubaraks Abtritt geblieben, wäre die Situation eine ganz andere gewesen. Der Militärrat hätte sich den Millionen, die ihn dazu gezwungen hatten, Mubarak zum Machtverzicht zu bewegen, auch im Weiteren nicht entgegenstellen können.
Damals war ich für die politische Kommunikation in der oppositionellen "Nationalen Vereinigung für Veränderung" zuständig, und ich kann mich noch gut daran erinnern, wer damals besonders laut danach rief, den Platz zu räumen. Allen voran waren es die Muslimbrüder, aber es schlossen sich ihnen auch andere Parteien an, die historisch mit dem tiefen Staat verbunden waren (ich möchte an dieser Stelle keine davon hervorheben). Sie plädierten für einen politischen Prozess, ohne zunächst auf eine Einigung hinsichtlich des weiteren Vorgehens zu bestehen.
Im Grunde zeigte sich hier der typische diesen Parteien eigene politische Opportunismus, der darauf abzielte, möglichst schnell das Erbe des Mubarak-Regimes anzutreten, dessen Nachlass untereinander aufzuteilen und so einen Politkrieg aller gegen alle loszutreten. Diese Spaltung besteht bis heute fort, und dem Regime ist es ein Leichtes, die verschiedenen Seiten gegeneinander auszuspielen und dadurch die eigene Macht abzusichern.
Die zweite Sünde: Es wurde kein Projekt für die Zeit nach Mubarak formuliert, das allen das Gefühl vermittelt hätte, daran teilhaben zu können. Die "Nationale Vereinigung für Veränderung" versuchte, die sieben Hauptforderungen des revolutionären Aufstands vom Januar 2011 festzuschreiben, aber aufgrund der Umstände fand sie sich in einem Vakuum wieder, in dem niemand eine Vision davon hatte, wie es nach Mubarak weitergehen sollte.
Dieses Fehlen eines politischen Projekts führte dazu, dass sich die politischen Kräfte um ihre jeweils eigene Ideologie scharten und weder Demokratie noch Freiheit in den Mittelpunkt stellten. Die Linken hingen ihrer linken Ideologie an, die Islamisten sahen die Lösung in einer islamischen Ideologie und so weiter. Vor diesem Hintergrund verblasste die grundlegende Forderung nach Freiheit und Demokratie als Fundament von Diskurs und Politik.
Und dies führte zur dritten Sünde: Das Ausbleiben eines Diskurses, der darauf gerichtet war, die Massen zu überzeugen. Wo ein Projekt fehlt, fehlt auch eine Struktur, aus der ein Diskurs erwächst. Zudem dominierte statt Aktion nur politische Reaktion und somit ein Diskurs, der lediglich auf den Moment und das augenblickliche Geschehen gerichtet war. Die Opposition reagierte nur noch auf eine immer stärker werdende Repression durch das Regime.
Die vierte Sünde: Die so beschriebene Opposition war nicht in der Lage, sich selbst und ihre Vorgehensweise weiterzuentwickeln und blieb dem Prinzip des oppositionellen Protestes verhaftet. Sie konnte sich aus dieser Stagnation nicht befreien.
Die Muslimbrüder beispielsweise haben bis heute nicht begriffen, dass ihr derzeitiger Zustand eine Last für den Staat wie für die Gesellschaft darstellt und dass sie sich in eine politische Partei verwandeln müssten, die für eine Vision und ein Ziel steht und die mit ihrer Vergangenheit bricht.
Die fünfte Sünde bestand darin, dass einzelne Gruppen sich mit dem tiefen Staat verbündeten, um politische Gegner zu beseitigen. Die "Rettungsfront" spielte diese Rolle mit Bravour. Ihr einziges politisches Projekt bestand im Sturz der Muslimbrüder.
Vielleicht lag dies auch daran, dass die Front in ihren Reihen auch ehemalige Anhänger des Mubarak-Regimes und Verbündete des tiefen Staates hatte. Es gipfelte in der Aufforderung an die Armee, gegen das junge demokratische Experiment zu putschen.
Die Anhänger der Muslimbrüder irren, wenn sie bis heute nicht zwischen den friedlichen Demonstrationen gegen sie und dem Putsch unterscheiden, den das Militär am 3. Juli 2013 gegen alle durchführte. Es gab damals Demonstrationen für vorgezogene Präsidentschaftswahlen. Wie auch immer man dazu gestanden haben mag, das Militär riss die gesamte Macht an sich, ohne Wahlen in Aussicht zu stellen, und setzte einen gewählten Präsidenten ab.
Die sechste Sünde: Die Zustimmung zur gewaltsamen Räumung des von den Muslimbrüdern besetzten Rabia-Platzes. Fast niemand von der Opposition stellte sich dagegen oder leistete auch nur minimalen Widerstand. Stattdessen übernahm man die Sprachregelung: "Die Toten wurden von denen ermordet, die sie dorthin geschickt haben" und übernahm den Diskurs des neuen Regimes in Gänze. Dazu gehörte, die Platzbesetzung habe den Staat in seiner Existenz gefährdet, was Unsinn war, denn wären die Muslimbrüder wirklich so stark gewesen, hätte sie niemand entmachten können.
Aber der Zweck dieser Propaganda war nur die Legitimierung eines Massenmords. Und die Übertragung der Räumung des Rabia-Platzes live vor aller Augen und Ohren war der Auftakt dazu, dass das Regime ab nun jeden töten würde, der sich einem anderen Lager zuordnet, also die gesamte friedliche Opposition.
Die Räumung von Rabia wird der Gesellschaft und dem Staat in Ägypten noch lange nachhängen. Seitdem hat sich spürbar Gewalt angestaut - und diese Gewalt greift in der ägyptischen Gesellschaft immer weiter um sich.
Die siebente Sünde bestand in einer bis heute andauernden Unfähigkeit, Fehler einzugestehen und zu einer nationalen Versöhnung aufzurufen, die alle politischen und ideologischen Kräfte einschließt. Manche über die letzten Jahre oft missbrauchten Begriffe müssten neu definiert werden.
Politische Solidarität zum Beispiel sollte auf dem Grundsatz der Gleichheit aller und dem Prinzip von Freiheit und Gerechtigkeit für alle beruhen, statt sich an ideologischer und politischer Zugehörigkeit zu orientieren. Während der vergangenen sechs Jahre hat die Opposition sich selbst ins Abseits manövriert und ihre inneren Spaltungen vertieft. So wird sie nie in der Lage sein, ihre innere Krise zu überwinden und sich breiteren Themen zuzuwenden, die eine Perspektive für einen Aufbruch bieten könnten.
Aber die Opposition scheint sich nicht darüber im Klaren zu sein, dass eine neue Phase eingeleitet werden muss, die auf einer nationalen Versöhnung beruht. Versöhnung würde heißen, in einen Dialog mit unterschiedlichen Seiten zu kommen, denn ohne einen solchen konstruktiven Dialog führt kein Weg zu einer gemeinsamen Vision auf der Grundlage von Freiheit und Demokratie und wird die Opposition sich nicht als Alternative zu einem Regime anbieten können, das sich alles erlaubt, nur um seine Macht zu behalten.
Taqadum Al-Khatib
© Qantara.de 2019
Der ägyptische Publizist und Politikwissenschaftler ist Doktorand an der Princeton University und der Freien Universität Berlin. Er war zuständig für politische Kommunikation in der "Nationalen Vereinigung für Veränderung".
Übersetzung aus dem Arabischen von Günther Orth