"Wir müssen den Begriff Identität neu denken"

Der Roman "Liebe jenseits des Ozeans" der palästinensisch-israelischen Autorin und Künstlerin Aida Nasrallah ist jüngst in deutscher Übersetzung erschienen - ein Buch, das die komplexe Identität der in Israel lebenden Palästinenser beleuchtet. Von Martina Sabra

Der Roman "Liebe jenseits des Ozeans" der palästinensisch-israelischen Autorin und Künstlerin Aida Nasrallah ist jüngst in deutscher Übersetzung erschienen - ein Buch, das die komplexe Identität der in Israel lebenden Palästinenser beleuchtet. Martina Sabra hat sich mit Aida Nasrallah unterhalten.

Aida Nasrallah; Foto: &copy Kovar-Verlag
Die Schriftstellerin Aida Nasrallah hat über Jahre hautnah miterlebt, wie der Einfluss islamistischer Gruppen in ihrer Heimatstadt Umm Al Fahm immer mehr wuchs und das kulturelle Leben eingeengt wurde.

​​Eine palästinensische Autorin sitzt auf dem Balkon einer Etagenwohnung mitten in Tel Aviv und kann es kaum fassen: ihre jüdischen Gastgeber sind zur Arbeit gegangen und haben ihr gesagt, sie möge die Tür hinter sich zuziehen, wenn sie gefrühstückt habe.

"Sie haben mich, die Palästinenserin, 'ein verdächtiges Objekt', mit all ihren Geheimnissen in der Wohnung gelassen! So als wollten sie es dem hasserfüllten Scharon zeigen."

Dieser kurze innere Monolog ist eine Schlüsselszene in dem halbautobiografischen Roman "Liebe jenseits des Ozeans" von Aida Nasrallah. Ausruhen auf dem Balkon von Freunden als subversive Aktion – solche Momentaufnahmen machen bewusst, welch absurde Situationen entstehen, wenn die religiöse Zugehörigkeit wichtiger genommen wird als der einzelne Mensch.

Ein Leben mit Widersprüchen

Mit scharfer Zunge und mit Humor – so schreibt Aida Nasrallah nicht nur, so bewältigt sie auch ihren Alltag, der von zahlreichen Absurditäten geprägt ist. 1956 in der israelischen Stadt Umm Al Fahm geboren, gehört die ausgebildete Kunsthistorikerin und Friedensaktivistin zu den rund 1,4 Millionen Palästinensern mit israelischem Pass.

Aida Nasrallah lebt mit Widersprüchen: sie möchte, dass die Palästinenser in der West Bank und in Gaza über sich selbst bestimmen können, würde aber selbst nie dorthin ziehen. Sie liebt die palästinensische Kultur und besonders den palästinensischen Familiensinn, kritisiert aber gleichzeitig aufs Schärfste das Patriarchat, den Konservatismus und die Bigotterie in Teilen der palästinensischen Gesellschaft.

Die Schriftstellerin ist sich der Komplexität ihre Situation bewusst. Doch sie weigert sich, diese Komplexität ausschließlich als Problem zu sehen.

​​"Wir müssen den Begriff Identität neu denken, denn der Begriff und das Bedürfnis nach Identität werden politisch missbraucht", erklärt Nasrallah. "Jeder hat doch mehrere Identitäten.

Auch die palästinensische Identität ist vielschichtig." Die Palästinenser, unterstreicht Nasrallah, könnten sich allerdings nur dann neu definieren, wenn auch die Juden ihre Positionen hinterfragten.

Dass beide Seiten ihre Standpunkte überdenken, dass Juden, Muslime und Christen im Nahen Osten miteinander reden, statt immer höhere reale und imaginäre Mauern zu errichten – dafür setzt sich Aida Nasrallah seit vielen Jahren aktiv ein – als bildende Künstlerin, als Schriftstellerin und als Feministin.

Sie hat an verschiedenen jüdisch-arabischen Kunstinitiativen mitgewirkt, unter anderem mit dem Filmemacher Allon Hanania.

Verquickung von Religion und Politik

Das für sie persönlich prägendste Projekt war ein internationales Schriftstellerprogramm in den USA, an dem im Herbst 2001 außer ihr selbst auch der jüdisch-israelische Schriftsteller Etgar Keret und der palästinensische Lyriker Ghassan Zaqtan aus Ramallah teilnahmen.

Unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September, der gewaltsamen Landnahme in den besetzten Gebieten und des Terrors gegen israelische Zivilisten rückten die drei in der Fremde näher zusammen, als es in Israel möglich gewesen wäre. Man tröstete einander nach den Selbstmordattentaten in Tel Aviv und den israelischen Bombardements in der West Bank.

Aida Nasrallah hat Ausschnitte aus dieser Zeit in ihrem Buch "Liebe jenseits des Ozeans" verarbeitet: "Ich fand, dass man diese Erfahrung irgendwie festhalten musste. Diese Koexistenz im Kleinen, die wir erlebt haben – das muss man in die Welt tragen."

Eine wichtige Gemeinsamkeit der nahöstlichen Dreiergruppe war der Widerwille gegen die zunehmende Verquickung von Religion und Politik, Religion und Staat in Israel und Palästina.

Aida Nasrallah hat über Jahre hautnah miterlebt, wie der Einfluss islamistischer Gruppen in ihrer Heimatstadt Umm Al Fahm immer mehr wuchs und das kulturelle Leben eingeengt wurde.

In dem Roman "Liebe jenseits des Ozeans" ist die Frustration über die politische Vereinnahmung des Islams zu spüren. Bei einem Besuch des Felsendoms in Jerusalem, des viertwichtigsten Heiligtums der Muslime weltweit, lässt die Protagonistin ihrer Phantasie freien Lauf:

"Ich stelle mir vor, dass unser Prophet Mohammed aus dem Grab fährt und ruft: Wer hat Euch eingeredet, dass Ihr meinetwegen um diesen Felsen kämpfen müsst? Er interessiert mich überhaupt nicht mehr!

Nicht die Religion ist das Maß, sondern einzig und allein der einzelne Mensch. Für diese humanistische Grundüberzeugung will Aida Nasrallah in ihren Büchern werben. Das Bedürfnis, auf die Politik einzuwirken, verspürt sie allerdings nicht.

Ihr reicht es, Denkanstöße zu geben. "Ich bin ja keine Institution. Ich glaube nicht, dass ich die Welt verändern kann. Aber ich kann meiner Verantwortung gerecht werden, gegenüber mir selbst, gegenüber Freundinnen, die ich liebe. Zumindest zwischen uns sollte Frieden herrschen."

Martina Sabra

© Qantara.de 2008

Aida Nasrallah: Jenseits des Ozeans. Roman Kovar Verlag, München 2008

Qantara.de

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