Scheherazade in Amerika

In ihrem Roman "Feigen in Detroit" schildert Alia Yunis das Schicksal einer libanesisch-amerikanischen Familie, die in den USA ihre arabische Herkunft hinter sich gelassen hat. Darin wird die literarische Figur Scheherezades zur Ohrenzeugin einer unerschöpflichen Erzählung. Eine Rezension von Volker Kaminski

​​ Wussten Sie, dass Shakespeare Araber war? Fatima, Mutter von zehn Kindern und unumstrittenes Oberhaupt der Familie Abdullah, ist davon überzeugt. Shakespeares wahrer Name sei "Sheikh Sabeer" gewesen. Ein Brite habe seine Liebesdramen abgeschrieben und ihm obendrein seinen Namen gestohlen.

Wie Fatima auf witzige Weise en passant eines der großen Rätsel der Weltliteratur löst, so gelingt es ihr auch als Fünfundachtzigjährige, den Faden ihrer aus dem Libanon stammenden, über Amerika verstreuten Familie fest in Händen zu halten. Unermüdlich versucht sie die Geschicke ihrer Kinder und Enkel aus der Ferne zu lenken und in ihren letzten Lebensmonaten alles zum Guten zu wenden.

Unterstützt wird sie dabei von einer anderen, überaus prominenten Figur der arabischen Literatur: Scheherazade. Abend für Abend besucht Scheherazade Fatima. Doch statt selbst das Wort zu ergreifen, wie sie es in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht tut, wird sie Ohrenzeugin von Fatimas unerschöpflicher Erzählung. Während Fatima schläft, steigt die arabische Prinzessin auf ihren fliegenden Teppich und saust kreuz und quer durch Amerika – vorübergehend sogar bis in den Libanon –, um sich selbst vor Ort ein Bild zu machen.

Unermüdliche Energie

Fatima glaubt, dass ihre Tage gezählt sind – sogar ganz genau abgezählt, denn 1001 Nächte lang wird Scheherazade sie besuchen, danach, so glaubt Fatima, muss sie sterben. In dieser ihr verbliebenen Frist will sie alle offenen Familienfragen regeln, ihr Geburtshaus im Libanon an einen ihrer Nachkommen übergeben, alle ledigen Kinder und Enkel verheiratet wissen, für jeden ein passendes Geschenk zurücklegen und ihr eigenes Begräbnis vorbereiten.

Mit der gleichen unermüdlichen Energie, die die Greisin antreibt, hat Fatima ihre Familie groß gezogen. Die Wurzeln ihres Emigrantenschicksals liegen im Libanon. Als junge Ehefrau brach sie mit Marwan, ihrem ersten Mann, nach Detroit auf, wo Marwan in den Fordwerken nach dem zweiten Weltkrieg Arbeit fand. Doch ihre Ehe dauert nur kurz; nach der Geburt der ersten Tochter stirbt Marwan an den Folgen seiner Verletzungen, die er als Gewerkschaftsführer erlitten hatte.

Fatima heiratet wieder, Ibrahim, Marwans Freund, und bekommt mit ihm neun Kinder. Zu Beginn des Romans sind Fatima und Ibrahim geschieden. Während Ibrahim in Detroit geblieben ist, lebt Fatima in Los Angeles, im Haus ihres Lieblingsenkels Amir.

Labyrinth von Namen und Orten

Das Schicksal dieser großen Familie wird in Fatimas rückschauender Zusammenfassung klar strukturiert. Die Anfänge im libanesischen Dorf und die frühen Jahre in Amerika, das Erwachsenwerden der Kinder, sind nur Vorgeschichte. Der Schwerpunkt liegt auf der Jetztzeit, genauer gesagt, auf den Jahren nach dem elften September 2001, in denen die Geschichte spielt.

Zu den Ereignissen um Fatimas Kinder und Kindeskinder lässt sich an dieser Stelle jedoch nicht einmal eine knappe Inhaltsangabe geben: Zu disparat sind die einzelnen Lebensläufe, zu abrupt der Wechsel der Orte und damit der Erzählperspektive. Nicht umsonst hat der Verlag einen Stammbaum der Familie Abdullah an den Romananfang gestellt, damit sich der Leser nicht im Labyrinth der zahlreichen Namen und Spielorte verirrt.

Alia Yunis; Foto: Aufbau Verlag
Als Tochter eines UN-Diplomaten war Yunis von klein auf in vielen Ländern und Erdteilen zu Hause. Sie sei das Reisen so sehr gewohnt, dass es für sie ganz selbstverständlich sei, ihren Roman aus der Perspektive einer Reisenden zu schreiben.

​​ Es ist jedoch klar, dass auch in dieser Familie nicht alles glatt gelaufen ist. Dies muss Fatima im Lauf ihrer Erzählung erkennen. Ihr eigenes Mutterleben wurde von schweren Schicksalsschlägen getroffen. Sie verlor zwei Söhne durch einen Tornado. Auch Vieles im Leben ihrer Kinder ging schief, Ehen scheiterten, Lebensträume blieben unerfüllt, berufliche Karrieren endeten im kläglichen Versagen – all diese sehr normalen, menschlichen Seiten des Lebens versteht die Autorin auf wunderbar ironische und oft anrührende Weise darzustellen.

Dabei fällt auf, dass sämtliche Familienmitglieder ihre arabische Herkunft längst hinter sich gelassen und sich an die moderne Lebenswirklichkeit der USA angepasst haben. Es ist die Generation Fatimas und Ibrahims, die noch oft zurückblickt und sich stärker mit ihrer Herkunft identifiziert. Fatima hat nie lesen gelernt, kann aber den Koran auswendig. Ibrahim hat wichtige Briefe von Verwandten aus dem Libanon aufgehoben, die er ihr übergeben möchte. Da jedoch in der Familie kein Arabisch mehr gesprochen wird, benötigt Fatima einen Übersetzer.

Rückbesinnung auf die kulturelle Herkunft

Nach Überzeugung der Autorin Alia Yunis hat sich die Situation der Muslime in den USA nach dem elften September verschlechtert. Die schrecklichen Anschläge hätten eine "Vertrauenskrise" ausgelöst, die die muslimischen Einwanderer Amerikas zu spüren bekamen. Hätten in den Jahrzehnten davor noch Millionen von Muslimen aus unterschiedlichen Ländern sich fest in die amerikanische Wirklichkeit integriert, so habe sich das Misstrauen vor allem gegen arabischstämmige Muslime verstärkt und diese selbst würden sich zu einem großen Teil wieder stärker auf ihre kulturellen und religiösen Ursprünge besinnen.

Yunis, die auf Englisch schreibt und bisher als Drehbuchautorin und Publizistin arbeitete, legt mit "Feigen in Detroit" ihren ersten Roman vor. Als Tochter eines UN-Diplomaten war sie von klein auf in vielen Ländern und Erdteilen zu Hause. Sie sei das Reisen so sehr gewohnt, dass es für sie "ganz selbstverständlich" sei, ihren Roman "in mehreren Staaten und verschiedenen Ländern spielen zu lassen" und die "Perspektive einer Reisenden" einzunehmen, wie sie in einem Interview im Anhang sagt.

Dies mag auch der Grund sein, warum Scheherazade die Leitfigur dieses Romans ist. Fatimas Geschichten stellen nach Auskunft von Yunis "eine sehr moderne Version" der Geschichten aus 1001 Nacht dar. Als Autorin bevorzuge sie das "Konzept der ineinander verwobenen und verschachtelten, niemals endenden Erzählungen".

In diesem intelligenten, stellenweise hochkomischen und glänzend übersetzten Roman wird deutlich, dass Familiengeschichten auf der ganzen Welt einander ähneln, selbst wenn im Hintergrund die Mühen des Migrantenschicksals bestehen bleiben, die sich unterschwellig noch in der nachwachsenden Generation fortsetzen.

Volker Kaminski

© Qantara.de 2011

Alia Yunis: Feigen in Detroit. Aus dem Englischen von Nadine Püschel und Max Stadler. Aufbau Verlag, 2010. 427 Seiten.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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