"Krieg sind wir gewöhnt"
"Die Daesh-Kämpfer glauben, ihr Weg führt direkt ins Paradies, aber ich hoffe zutiefst, dass sie in der Hölle landen." Bekleidet mit einem leichten Sommerhemd und Zehenschlappen und einer verstaubten Kalaschnikow in der Hand steht Abdelshafi am letzten Sandhügel, der seine Truppe von der Terrorgruppe trennt. 150 Meter weiter erkennt man eine identische Sandaufschüttung, hinter dem sich einige Gestalten bewegen.
Dies ist eine von mehreren Frontlinien in Sirte, die IS-Hochburg in Zentrallibyen, welche regierungstreue Truppen aus Westlibyen seit Anfang Mai 2016 belagern. Hinter den Truppen befindet sich der bereits eingenommene Verkehrskreisel von Safran, auf dem der IS während seiner einjährigen Machtherrschaft in Sirte zur Einschüchterung der Bevölkerung Oppositionelle an Reklametafeln hat ausbluten lassen.
Der 17-jährige Abdelshafi und seine Kameraden, von denen manche erst im Teenager-Alter sind, halten sich für kampferprobt. "Wir waren schon auf anderen Schlachtfeldern - Krieg sind wir gewöhnt", sagen sie trotzig, mit einer Mischung aus Stolz und Überdruss. Diesen Krieg betrachten sie als ihre absolute Pflicht.
“Erstens tun wir das Richtige. Wir müssen unser Land vom 'Islamischen Staat' ('Daesh') befreien, denn sie haben furchtbare Verbrechen begangen. Es geht ihnen gar nicht um Religion sondern um Macht”, erklärt Abdelshafi, und fügt hinzu "und zweitens bin ich bereit, den Märtyrertod zu sterben." Seine Kameraden lachen auf die Frage, ob sie Angst vor der Zukunft haben. "Welche Zukunft?" fragen sie zurück. Ihre Frustration ist offensichtlich. "Was ändert es, ob wir mit dir reden oder nicht?", entgegnet einer der Milizionäre. "Vor dir waren auch andere Ausländer hier, aber Unterstützung haben wir seitdem immer noch nicht erhalten."
"Sirte ist ihr Grab!"
Hinter der Frontlinie sind die Einheiten damit beschäftigt, die eingenommenen Gebäude nach Munition und Sprengkörpern zu durchsuchen. Ein vorbeifahrender Kämpfer hält triumphierend Waffen hoch, die im Nahkampf mit einigen IS-Schützen erbeutet werden konnten. "Kein 'Daesh'-Terrorist wird die Stadt lebend verlassen! Sirte ist ihr Grab!", ruft er. Ein anderer zeigt Objekte, die tote IS-Kämpfer an sich trugen, unter anderem Kreditkarten einer nigerianischen Bank. Man geht davon aus, dass die meisten libyschen IS-Mitglieder Ausländer sind – junge Männer verschiedenster Herkunft, die von der Terrormiliz mit großzügigen Gehältern angelockt und einer Gehirnwäsche unterzogen wurden.
"Jeden Tag machen wir Geländegewinne. Der 'Islamische Staat' kontrolliert nur noch eine Fläche im Stadtzentrum von rund fünf Kilometer Radius", meint Mohamed al-Ghasri, Sprecher der westlibyschen Anti-IS-Koalition "Al-Bunyan al-Marsus" ("Solide Architektur") in Misrata. Die Zuversicht der Koalitionsführung kaschiert allerdings, wie brutal der Krieg wirklich ist. Über 350 "Al-Bunyan al-Marsus"-Kämpfer sind seit vergangenem Mai gefallen, etwa 2.000 weitere wurden verletzt.
Auch Abdelshafi hat Anfang Juli, wenige Tage nach unserer Begegnung an der Front, leichte Verletzungen erlitten, als ein IS-Selbstmordattentäter sein Fahrzeug neben ihm in die Luft jagte. Seither ist der Gymnasiast wieder bei sich zuhause in Misrata und lernt für seine Klausuren. Die Stadtverwaltung hatte diese im Frühsommer verschoben, angeblich um es den Jugendlichen zu ermöglichen, in den Krieg zu ziehen. "Sobald ich fertig bin, gehe ich zurück an die Front", sagt er. Sorgen macht er sich vor allem um einen schwerverletzten Freund.
Fehlende Rückendeckung
Nicht alle befürworten die Präsenz von Minderjährigen an der Front, aber auch widerstrebende Eltern gelingt es nicht immer, ihre Söhne zurückzuhalten. "Al-Bunyan al-Marsus" baut neben Militärs vor allem auf die Beteiligung von Zivilisten, sowie auf die sogenannten "Revolutionären", die während oder nach dem Umsturz des Gaddafi-Regimes 2011 den Brigaden beigetreten sind.
Bereits im Frühjahr 2015 entsandte das damalige Parlament in Tripolis die "Brigade 166", eine aus Misrata gesteuerte Revolutionsgruppe, nach Sirte, um den Übergriff des IS zu verhindern. Aber der Brigade mangelte es an politischer und militärischer Rückendeckung, und Mitte 2015 hatte der IS seine Macht in der Stadt konsolidiert.
"In gewisser Weise wurde damals die Stadt von der 'Brigade 166' 'Daesh' ausgeliefert", meint Ahmed* [Name geändert] aus Sirte. Seine Brigade – "Al-Jalet" - versuchte im August 2015 vergeblich, einen Aufstand gegen den IS anzuzetteln. "Nach drei Tagen war alles vorbei. Wir hatten keine Chance und mussten aus der Stadt flüchten", berichtet Ahmed.
In den darauffolgenden Monaten breitete sich die Terrorgruppe immer weiter entlang der Küste aus und griff vielfach Kräfte aus der 250 Kilometer westlich von Sirte gelegenen Stadt Misrata an. Die Wende kam Ende April 2016, als die Armeeführung in Ostlibyen unter General Khalifa Haftar, sowie politische Entscheidungsträger in Misrata unabhängig voneinander eine Großoffensive gegen die IS-Hochburg Sirte starteten.
Kein politischer Durchbruch in Sicht
Während die ostlibyschen Truppen aufgrund der politischen Spannungen mit Misrata jedoch vor Sirte halt machten, stellte sich die aus Misrata gelenkte Koalition "Al-Bunyan al-Marsus" unter die Führung der von den UN unterstützten Einheitsregierung in Tripolis. Haftar weigert sich indes, mit der "vom Westen aufgezwungenen Regierung" und ihren "Milizen" zusammenzuarbeiten. Die UN und andere internationale Akteure versuchen weiterhin, die verfeindeten Lager an einen Tisch zu bringen, aber auch nach den jüngsten Verhandlungen in Tunis und Kairo im vergangenen Juli scheint kein Durchbruch in Sicht.
An der Front wirkt das Szenario eines Abkommens auf höchster Ebene fern. Viele der westlibyschen Kämpfer betrachten General Haftar als Tyrannen, der den Kampf gegen Extremisten und IS-Elemente in Ostlibyen zur eigenen Machterweiterung nutzt. "Haftar wird dem Krieg in Sirte nicht beitreten - er ist nur an seinem Thron interessiert", meint den auch einer der Milizionäre. Andere bezichtigen Haftar gar, mit dem IS unter einer Decke zu stecken.
Und auch der Westen kommt nicht ungeschoren davon. "Warum machen die Amerikaner denn nichts? Wenn sie wollten, könnten sie den 'Daesh' doch in wenigen Tagen beseitigen. Das Problem ist, dass der Westen beide Bürgerkriegslager unterstützt", meint Mahmud, ein Geschäftsmann aus Misrata, der die Kämpfer begleitet.
Tatsächlich haben die USA, Großbritannien und einzelne EU-Staaten bereits vor Monaten Sondereinheiten zum Kampf gegen den IS sowohl nach Misrata als auch nach Bengasi entsandt. Es soll sich im Wesentlichen um logistische Unterstützung und Datenaustausch handeln, auch wenn kürzlich veröffentlichte Tonaufnahmen aus Bengasi darauf deuten, dass mit westlicher Hilfe auch Luftangriffe koordiniert werden. Nach dem Tod dreier französischer Soldaten vor zwei Wochen nahe Bengasi musste Frankreichs Regierung ihren geheimen Militäreinsatz auf Seiten Haftars öffentlich eingestehen.
Alle Bürgerkriegsparteien fordern moderne Ausstattung und Waffen an, doch dies ist nur durch eine Sondergenehmigung der Vereinten Nationen möglich. Da man fürchtet, dass Waffenlieferungen den Bürgerkrieg weiter anheizen könnten, hängt die Entscheidung also trotz der IS-Gefahr weiter in der Schwebe.
Gemeinsam gegen die Höllenhunde des IS
Trotz der politischen Sackgasse hegen die "Al-Bunyan al-Marsus"-Kämpfer die Hoffnung, dass ein Sieg über den IS auch eine Einigung des Landes vorantreiben könnte, zumindest regional. "Wir müssen zusammenhalten – als Libyer und als Muslime. Ich hoffe, dass uns dieser Krieg gegen die 'Höllenhunde von Daesh' zusammenschweißen wird", meint Jamal, ein Offizier der Militärpolizei aus Tripolis. "Misrata, Zawiya und Zintan [Lokalmächte in Westlibyen] müssen so lange verhandeln, bis sie auf einen gemeinsamen Nenner kommen."
Die Bewohner von Sirte, von denen die überwiegende Mehrheit vor dem IS geflohen ist - hoffen vor allem auf eine baldigen Sieg gegen die IS-Besatzer. "Mir ist es letztendlich egal, welche Seite uns unterstützt. Ich will einzig und allein meine Stadt befreit sehen", meint Ahmed. Zu Beginn eher der ostlibyschen Armee zugeneigt, haben er und ein paar Kameraden der "Jalet-Brigade" sich letztendlich der Anti-IS-Koalition "Al-Bunyan al-Marsus" angeschlossen. Auch eine salafistische Gruppe aus Sirte ist Teil dieser Koalition.
Der Einschluss von Kräften aus Sirte ist wichtig, denn die Beziehungen der Stadt mit Misrata sind vorbelastet. Als Gaddafis Geburtsort, Machtbasis und letztes Refugium war den "Revolutionären" die Stadt stets ein Dorn im Auge. Sie hatten nach dem Umsturz von 2011 in Sirte die lokalen Stämme entwaffnet und ihre eigenen Regeln walten lassen. Das daraus erfolgte Machtvakuum, und die Verbitterung der Bewohner, haben vier Jahre später die Übernahme durch den IS erleichtert.
Aber auch bei bestem Willen aller Seiten wird es nicht einfach sein, dieses Machtvakuum zu füllen und das Vertrauen wieder herzustellen, denn selbst die vom IS vertriebene Lokalverwaltung ist politisch gespalten, erklärt Ahmed. "Alle Akteure haben ihre Legitimität und Glaubhaftigkeit verloren. Wir müssen von Grund auf neu beginnen."
Valerie Stocker
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