Vorbild für die islamische Welt - oder eher eine Gefahr?
In der arabischen Welt waren die Reaktionen auf die dramatischen Ereignisse in der Türkei sehr unterschiedlich. Das verwundert nicht, hatte man dort zur türkischen AKP-Regierung doch bereits vor dem Umsturzversuch ein zutiefst gespaltenes Verhältnis.
Der türkische Laizismus ist islamisch-konservativen Arabern seit jeher fremd. Ähnlich wie ihre liberalen Widersacher verfolgen aber auch sie die fortschreitende Unterwanderung des Kemalismus durch Erdoğans islamistisch gefärbte Partei mit Sorge. Umso mehr, als sich der türkische Staatschef zum Anwalt der Muslimbrüder und ihrer Anhänger aufgeschwungen hat – insbesondere seit sie in Ägypten und Saudi-Arabien verfolgt werden.
In Ägypten, wo Staatspräsident Abdel Fattah al-Sisi, der zu den schärfsten arabischen Kritikern Erdoğans gehört, selbst durch einen Militärputsch an die Macht gekommen ist, feierten die regimetreuen Kairoer Blätter sogleich die "Absetzung Erdoğans". Auch nach Ausklingen des voreiligen Jubels hat sich ihre Einstellung kaum geändert.
Von "Erdoğanisierung" und "Muslimbruderisierung"
Ezat Ibrahim, Redaktionsleiter der Zeitung "Al-Ahram", vertritt den Standpunkt, dass der Sturz regierender Islamisten, die ja eine islamische Diktatur anstrebten, nicht antidemokratisch sei, sondern im Gegenteil die Demokratie schütze. Für ihn und andere ägyptische Meinungsmacher sind die gegenwärtigen politischen Säuberungen in der Türkei eine Paradebeispiel dafür, was den Gegnern der Muslimbrüder in Ägypten blühen würde, sollten die Islamisten dort wieder an die Macht kommen.
Im liberalen arabischen Lager lobte man zunächst das türkische Volk für seinen mutigen Widerstand gegen die Verschwörer, was gleichzeitig aber auch eine Aufforderung an die Ägypter sein sollte, für mehr Demokratie zu kämpfen. Indes kommen auch die Liberalen nicht um Analogien herum, die denen der Regimetreuen nicht unähnlich sind. Die Massenverhaftungen in der Türkei, die den Laizismus Stück für Stück aushöhlten, geißelt Kommentator Mohammed al-Kafrawi in "Masry al-Yaum" als "Erdoğanisierung" des Landes – wohl auch ein Seitenhieb auf den Personenkult um Präsident Al-Sisi, der die Verfolgung der einheimischen Islamisten mit der angeblich drohenden "Muslimbruderisierung" Ägyptens begründet.
In Tunesien konkurrieren die Meldungen aus der Türkei mit den dramatischen Nachrichten über die jüngste politische Krise in Tunis und die Bildung einer neuen Einheitsregierung. An dieser ist wieder die – von den Säkularen irrtümlich bereits marginalisiert geglaubte – islamistische "Ennahda"-Partei beteiligt, deren Kopf Rachid al-Ghannouchi ein bekannter Bewunderer Erdoğans ist. Dass dessen Regierung einen Militärputsch abwehren konnte, ist für Al-Ghannouchi nicht nur ein Beleg für ihre Demokratiefestigkeit. Damit habe die Türkei, äußerte er gegenüber der staatlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu, einmal mehr unter Beweis gestellt, dass sie es verdiene, nicht nur die Region, sondern die gesamte islamische Welt zu führen.
An den türkischen Säuberungen stören sich weder die Islamisten in Tunesien noch in anderen arabischen Ländern. Sie alle denken ähnlich über die islamische Führungsrolle der Türkei, und wen Erdoğan zum Feind erklärt, der ist auch der ihre. Zumal in diesen Kreisen, ähnlich wie bei den türkischen Gesinnungsgenossen der Muslimbrüder, häufig die Überzeugung begegnet, Fethullah Gülen sei in Wahrheit ein amerikanischer CIA-Agent – unterstützt auch noch von etlichen "westlichen Geheimdiensten", wie dies die im Gazastreifen herrschende und von der AKP-Regierung protegierte palästinensische Hamas in ihrer Hauszeitung "Felesteen" behauptet.
Keine Sympathien für Gülenisten
Ankaras Unterstützung für die arabischen Islamisten hatte in den letzten Jahren zwar für Spannungen mit Riad gesorgt, aber das saudische Königshaus betrachtet Erdoğan neuerdings als Verbündeten im Kampf gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS). Für die Gülenisten hegt die saudische Elite ohnehin keine Sympathien. Sie seien schlimmer als der IS, sagte der saudische Milliardär Prinz al-Walid ibn Talal al-Saud in einem Gespräch mit der türkischen Zeitung "Hürriyet", der Erdoğan jüngst demonstrativ einen Freundschaftsbesuch abstattete.
Die saudischen Blätter meiden zwar solche krassen Äußerungen und halten sich im Hinblick auf die Repressionen in der Türkei zurück, auch wenn sie auffallend häufig wie nebenbei anmerken, dass man im Westen mit diesen Maßnahmen nicht einverstanden sei.
Aber auch in den saudischen Redaktionen, die den gegenwärtigen Reformkurs der Regierung mittragen, verliert man angesichts der nicht enden wollenden Massenverhaftungen und -entlassungen in der Türkei allmählich die Geduld. Ein Zeichen dafür ist ein langes Interview, das der internationale saudische Fernsehsender "Al-Arabiya" kürzlich mit Fethullah Gülen führte – allerdings verschwand es schon wenige Stunden später wieder von der sendereigenen Website.
Inzwischen wird in saudischen Medien sogar offen Kritik an Erdoğans Vorgehen geübt. Jede weitere Verhaftungswelle sei nur noch kontraproduktiv, meint Kolumnist Bikram Vohra in der saudischen "Arab News": "Wenn Verdacht zu Paranoia wird und Loyalität nichts mehr zählt, ist der Schaden verheerend." Die Regierung Erdoğan sollte weniger Säuberungsaktionen durchführen und sich stattdessen auf die realen Gefahren, die dem Land drohten, konzentrieren.
Auf dem Weg zum neo-osmanischen Sultanat?
Weil Erdoğan den Sturz des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad fordert, ist seinen türkischen Opfern die Solidarität der Damaszener Blätter sicher. In "Al-Watan" wird der türkische Staatschef bezichtigt, den Putschversuch als Vorwand zu benutzen, um seine persönliche Rechnung mit dem einstigen Weggefährten Gülen zu begleichen. Erdoğan verfolge das Ziel, so Kahtan al-Suyufi, den laizistischen Staat Atatürks zu zerstören. Vom säkularen syrischen Regime wird die AKP-regierte Türkei also auch langfristig als Bedrohung gesehen, zumal, wie Al-Suyufi schreibt, Erdoğan die Errichtung eines neo-osmanischen Sultanats anstrebe.
Über die staatlichen Säuberungen im Nachbarland wird hier weniger ausführlich berichtet als anderswo in den arabischen Medien – wohl auch deshalb, weil sie an den Umgang des syrischen Regimes mit der eigenen Opposition erinnern könnten. So lässt man denn auch in Damaskus Kritik an der "undemokratischen" AKP-Herrschaft vorzugsweise von bekannten türkischen Schriftstellern wie Nedim Gürsel verlauten, der in Paris lebt.
Jene Teile der syrischen Opposition, die von der türkischen Regierung direkt unterstützt werden, meiden die Auseinandersetzung mit Erdoğans Rachefeldzug gegen tatsächliche oder vermeintliche Gülenisten. Auf der arabischsprachigen Internetseite der "Nationalen Syrischen Koalition", die sich auf Englisch "Geneva Media Unit" nennt, trifft man beim Thema Türkei fast nur auf Meldungen, die von der arabischen Abteilung der staatlichen türkischen Nachrichtenagentur "Anadolu" übernommen werden.
In oppositionellen säkularen Kreisen hingegen, die der Türkei kritisch gegenüberstehen, herrscht – ironischerweise wie bei den Assad-Treuen – die Sorge vor einer fortschreitenden Islamisierung der Türkei. Das türkische Volk wird der Hauptleidtragende dieser Entwicklung sein, schreibt Ahmad al-Schami in "Enab Baladi", einer der Zeitschriften der syrischen Aufständischen. Die Türkei laufe Gefahr, zu einem gescheiterten Staat zu werden – antiwestlich, isoliert und von einem "türkischen Assad" regiert.
Joseph Croitoru
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