Die türkische Demokratie in der Abwärtsspirale
2008, als die Türkei Ehrengast der Frankfurter Buchmesse war, galten Sie als Star der türkischen Delegation. Nehmen Sie heute eine veränderte Stimmung wahr?
Elif Shafak: Ja, das tue ich. In dem Sinne, dass 2008 wesentlich optimistischer auf die Demokratie in der Türkei geschaut wurde – auch, wenn es damals schon große Probleme gegeben hat. Ich denke, wir haben Rückschritte gemacht, erst allmählich, dann rasant. Heute sind wir als türkische Schriftsteller, Dichter, Journalisten und Intellektuelle demoralisiert. Die Stimmung ist viel schlechter geworden.
Die deutsch-türkischen Beziehungen haben sich stark verändert. Die Entscheidung des Bundestages, die Gräuel an den Armeniern als Völkermord zu bezeichnen, hat einen Konflikt ausgelöst. Die türkische Regierung protestierte vehement dagegen. Hat das deutsche Parlament richtig gehandelt?
Shafak: Ich habe in meinen Publikationen jahrelang meine Einstellung zu diesem sehr wichtigen Thema deutlich gemacht. Ich habe Artikel geschrieben, bin öffentlich aufgetreten, und habe den Roman "Der Bastard von Istanbul" geschrieben, für den ich angeklagt wurde, weil ich das Wort "Genozid" in dem Mund genommen hatte. Wegen meiner kritischen Haltung in diesem Buch wurde mir damals "Beleidigung des Türkentums" vorgeworfen. Ich wurde letztlich freigesprochen, aber zwei Jahre lang musste ich mich von Bodyguards beschützen lassen.
Es handelt sich also um ein Thema, das mich als Schriftstellerin sehr beschäftigt. Allerdings ist mein Ansatz diesbezüglich stets konstruktiv: Ich wünsche mir Frieden und Harmonie zwischen Armeniern und Türken. Und ich wünsche mir, dass sich das Verhältnis in Zukunft bessern wird, anders als noch in der Vergangenheit. Ich glaube, dass insbesondere türkische Intellektuelle mehr Verantwortung übernehmen müssten. Die Türkei ist eine Gesellschaft kollektiver Amnesie. Erinnerung heißt aber Verantwortung. Wir müssen daher über beides reden: sowohl über die Zeiten der Harmonie als auch über die Grausamkeiten der Vergangenheit. Nicht, um noch mehr Betroffenheit oder Rachegefühle zu erzeugen, sondern um den Kummer der Leute auf eine sehr menschliche Art zu teilen. Wenn wir Türken uns erinnern, können die Armenier ein wenig vergessen.
Ihr neues Buch "Three Daughters of Eve"(deutscher Titel: "Der Geruch des Paradieses") liest sich wie eine poetische Diskussion über westliche Vorstellungen von Demokratie und die die östlichen Traditionen des Islam. Inwiefern lassen sich beide Konzepte in der Türkei miteinander vereinbaren?
Shafak: Ich denke, dass es natürlich für eine Person möglich ist, gleichzeitig Muslim und Demokrat zu sein. Genauso wie es für einen Christen oder Juden möglich ist, Demokrat zu sein. Und es ist möglich für ein Land, in dem die Mehrheit muslimisch ist, eine Demokratie einzuführen – eine pluralistische Demokratie mit liberal-demokratischen Werten. Doch dazu ist es nötig, sich intensiv und ernsthaft mit den liberal-demokratischen Werten zu beschäftigen. In der Türkei haben wir das noch nicht getan. Im Gegenteil: Wir haben sogar Rückschritte gemacht.
Es ist insofern eine große Schande, weil die Geschehnisse in der Türkei auch Auswirkungen außerhalb der Türkei haben. Mich stimmt all das sehr pessimistisch, doch ich habe auch Hoffnung, dass auch die Länder mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung den Übergang zur Demokratie schaffen und die unterschiedlichen Religionsgemeinschaften dort in Frieden miteinander leben können. Auch das ist möglich!
In der Türkei wurde jüngst der Ausnahmezustand verlängert. Inwiefern wirkt sich das gegenwärtige politische Klima negativ auf türkische Schriftsteller und andere Kulturschaffende aus?
Shafak: Seit mehreren Jahren schon befindet sich unsere Demokratie im Niedergang. Türkische Schriftsteller haben das zum Ausdruck gebracht. Die Demokraten in der Türkei fühlen sich einsam, und manchmal fühlen wir uns verlassen. Die Türkei ist ein stark polarisiertes und extrem politisiertes Land. Der Putschversuch vom vergangenen Sommer war entsetzlich. Doch nun haben wir die Säuberungen in der Türkei. Menschen, die nichts mit dem Putschversuch zu tun hatten, werden heute angeklagt. Ihnen wird vorgeworfen, sich an der Verschwörung beteiligt zu haben. Die Razzien treffen insbesondere Journalisten, Schriftsteller und Intellektuelle sehr hart. Ich bin mit Schriftstellern befreundet, die heute in türkischen Gefängnissen sitzen.
Noch vor ein paar Jahren galt die Türkei als regionales politisches Vorbild und Brücke zwischen dem Nahen Osten und Europa. Dieses Bild hat sich inzwischen komplett gewandelt. Gibt es überhaupt noch Hoffnung für eine Annäherung zwischen der Türkei und Europa?
Shafak: Das ist ein sehr vielschichtiges Thema. Um das Jahr 2005 gab es so etwas wie einen "goldenen Moment" in den türkisch-europäischen Beziehungen. Ein EU-Beitritt der Türkei schien zum Greifen nahe. Damals befürworteten rund 80 Prozent der Türken einen Beitritt ihres Landes zur Europäischen Union. Die Begeisterung in den türkischen Medien und in der Öffentlich war überwältigend. Doch leider nahm die Entwicklung einen anderen Lauf. Ich werfe einerseits der türkischen Regierung vor, es unterlassen zu haben, die Beitrittskriterien zu erfüllen. Andererseits kritisiere ich aber auch die populistischen Politiker Europas, die Distanz zur Türkei weiter ausgebaut zu haben. Gerade in Hinblick auf Frankreich war das der Fall. Was ist seit 2005 geschehen? Die Türkei hat sich mehr und mehr politisch isoliert und wurde immer autoritärer. Hat das etwa Europa geholfen? Nein. Und hat das etwa den türkischen Demokraten geholfen? Nein. Hat das der Region geholfen? Die Antwort lautet ebenfalls nein. Auf lange Sicht ist es besser, wenn die Türkei in eine Struktur europäischer Grundwerte, in eine liberale, pluralistische Demokratie eingebunden wird. Das Land muss zu einem neuen Dialog mit der EU ermutigt werden.
Wir können die Regierung kritisieren und gleichzeitig das Volk ermutigen. Ich weiß, dass es derzeit zwar nicht realistisch erscheint, über eine EU-Mitgliedschaft zu reden, aber wir müssen zumindest die Hoffnung darauf am Leben halten. Sonst erzählen die türkischen Nationalisten und Isolationspolitiker den jungen Türken: "Schaut, Europa schert sich nicht um uns. Daher sollten wir uns lieber Russland, Pakistan oder Saudi-Arabien zuwenden."
Nicht nur in Deutschland, sondern in vielen europäischen Ländern haben rechtspopulistische Tendenzen zugenommen? Wie erklären Sie sich das Phänomen, dass sich offenbar immer mehr Menschen populistischen Wortführern zuwenden?
Shafak: Empathie ist eines der Kernthemen eines Schriftstellers. Ich muss verstehen können, warum ein – sagen wir – ganz gewöhnlicher, besorgter Amerikaner, Deutscher oder Pole aus der Mittelklasse rechte Parteien wählt. Wenn wir nicht begreifen können, was in ihnen vorgeht, werden wir diese Leute verlieren. Wir dürfen das Gespräch mit ihnen nicht abreißen lassen. Viele Menschen haben Zukunftsängste. Manche Menschen haben Angst vor Migranten, vor dem Islam, vor "dem Anderen". Diese Befürchtungen muss man ernst nehmen. Gefährlich wird es allerdings, wenn diese Angst die Politik leitet. Die Geschichte ist voll von solchen Beispielen. Lasst uns daher die Ängste verstehen, aber erlaubt den Ängsten nicht, die Politik zu dominieren. Doch dafür benötigen wir ein besseres, grundsätzliches humanistisches Narrativ, das den Menschen sagt: "Es ist in Ordnung, Ängste zu haben. Lasst uns über unsere Ängste sprechen, aber lasst uns auch an konstruktiven Lösungen arbeiten!"
Für mich sind Vielfalt und Kosmopolitismus äußerst wichtig. Sorgen bereitet mir die Zunahme von Populismus, Fremdenfeindlichkeit und Stammesdünkel. Ebenso bin ich besorgt über die neuen Trends zu illiberalen Demokratien. Ob Ungarn, Polen oder die Türkei – ein Land nach dem anderen schlägt diesen Weg ein. Wir müssen über diese neuen autoritären Staaten reden – und über die Gefahren, die von ihnen ausgehen.
In der Türkei führt Ihr neuer Roman derzeit die Bestsellerlisten an. Welche Menschen wollen Sie vor allem mit Ihren Büchern ansprechen?
Shafak: Meine Leserschaft ist sehr divers. Ich habe in der Türkei 15 Bücher veröffentlicht. Zehn davon sind Romane. Mit jedem meiner Bücher hat sich meine Leserschaft vergrößert und wurde immer diverser. Das ist interessant, denn schließlich ist die Türkei ein äußerst polarisiertes Land. Die Menschen dort teilen nicht viele Dinge miteinander. Kunst und Literatur bilden da eine wichtige Brücke.
Es gibt viele Frauen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund, die meine Bücher lesen: Türkinnen, Kurdinnen, Armenierinnen, Jüdinnen, Alevitinnen. Kulturell, sozial und politisch sind sie recht verschieden: Es sie Feministinnen, Liberale, Linke. Doch lesen meine Bücher auch viele konservative Leserinnen, die Kopftuch tragen. Die Tatsache, dass Menschen, die sonst nichts miteinander zu tun haben, dieselben Bücher von mir lesen, ist mir sehr wichtig.
Interview: Sabine Peschel
© Deutsche Welle 2016
Elif Shafak (geb. 1971 in Straßburg) gehört zu den meist gelesenen Autorinnen ihres Landes und zu den bekanntesten türkischen Schriftstellerinnen weltweit. Sie hat einen Doktor in politischer Philosophie, lehrte zeitweise Gender-Studien an der Universität von Arizona und lebt heute als Schriftstellerin und Kolumnistin in London. Ihre Bücher wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Vor Kurzem erschien ihr neues Buch "Der Architekt des Sultans" auf Deutsch im Verlag Klein & Aber.