Zukunft ungewiss
Nach mehreren Jahren relativer Stabilität und wirtschaftlicher Blüte haben vor allem zwei Ereignisse in den Jahren 2014 und 2017 die Region Kurdistan-Nordirak (KRG) stark zurückgeworfen: 2014 entschied der damalige irakische Premierminister Nuri al-Maliki vor dem Hintergrund des sich zuspitzenden Erdöl-Konflikts im Nordirak, dass das Budget für die Regionalregierung Kurdistan-Irak künftig nicht mehr überwiesen wird. Diese Entscheidung hatte drastische politische, wirtschaftliche und damit auch soziale Verwerfungen zur Folge.
In dieser ohnehin schwierigen Situation wurde am 25. September 2017 dann ein Referendum bezüglich der Unabhängigkeit der KRG durchgeführt. Als Folge des Resultats, wonach laut Wahlkommission 92 Prozent für eine Unabhängigkeitserklärung Kurdistans gestimmt hatten, verschlechterte sich die Lage weiter. Nachdem das Abstimmungsergebnis am 10. Oktober 2017 bekannt wurde, entschied Iraks Premierminister Haider al-Abadi, die Flughäfen Sulaimaniya und Erbil für ausländische Flüge zu schließen und die Zentralregierung in Bagdad übernahm wieder die Kontrolle über rund 50 Prozent des Gebiets, das nach der Befreiung vom "Islamischen Staat" (IS) unter kurdischer Verwaltung gestanden hatte, namentlich Kirkuk sowie weitere Regionen.
Auch die Grenzen zum Iran und zur Türkei blieben im Anschluss an das Referendum zunächst geschlossen, der Handel wurde massiv eingeschränkt. Die KRG hatte vor dem Referendum täglich rund 500 bis 600 Barrel Erdöl für den Weltmarkt produziert. Gerade in der Abstimmungsphase stieg der Erdölpreis, doch fortan blieb die Region vom Erdölhandel abgeschnitten.
Drakonische Spardiktat mit Folgen
Die Entscheidung der irakischen Zentralregierung in Bagdad vom Jahr 2014 hatte die Regierung der KRG zu weitreichenden Sparmaßnahmen veranlasst: Unter anderem wurde für Beamtengehälter ein Sparsystem eingeführt, wonach ein Teil des Gehalts einbehalten und für die Angestellten als eine Art Spareinlage zurückgelegt wurde, obwohl damit keiner der Angestellten einverstanden war. Dies führte in regelmäßigen Abständen zu Streiks, wie etwa bei den Lehrern. Lediglich die Beschäftigten des Innenministeriums und die kurdischen Militäreinheiten der Peschmerga waren von den Sparmaßnahmen nicht betroffen.
Wenig verwunderlich, dass die Stimmung innerhalb der Bevölkerung bis heute sehr gespannt ist. Ein ehemaliger Politikstudent der Uni Sulaimaniya, der sich heute als Taxifahrer seinen Lebensunterhalt erstreiten muss, äußert sich dementsprechend pessimistisch über die angespannte ökonomische und politische Lage in der Region Nordirak-Kurdistan. Und über die Einflüsse des benachbarten Auslands in der Region: "Was die Türkei und der Iran wollen, wird hier realisiert", beschwert er sich. "Sie lassen uns bis ins Jenseits nicht in Ruhe, das ist unser Schicksal als Kurden."
In den Händen der Clans
Viele Kurden sind frustriert, dass vor allem nur jene politischen Kräfte das Sagen haben, welche die Milizen, die Waffen, die Medien und die Wirtschaft kontrollieren. Zwar existieren politische Parteien in der Region und keine spart mit großen Versprechen, doch praktisch herrscht bei vielen Menschen der Eindruck vor, dass die KRG bis heute im Grunde genommen nur von einigen Clans regiert wird, die jeweils den eigentlichen Kern der Parteien bilden.
Die wirtschaftlichen Kanäle werden von den beiden Hauptparteien, der "Demokratischen Partei Kurdistans" (PDK), die alleine 45 von 111 Sitzen im Parlament einnimmt, und der "Patriotischen Union Kurdistans" (PUK) mit ihren 21 Parlamentssitzen kontrolliert. Angesichts ihrer Dominanz der Parteienlandschaft haben die Menschen entsprechend wenig Hoffnung auf umfassende politische Veränderungen im Nordirak.
Der studierte Taxifahrer hat drei Kinder, die Miete für seine Wohnung beträgt rund 250 Euro und seine Frau erhält als Grundschullehrerin seit mehreren Jahren kein volles Einkommen. Für ihn ist die Arbeit ein täglicher Kampf ums wirtschaftliche Überleben. Er muss das fehlende Geld für sich und seine Familie aufbringen. Daher glaubt er - wie viele andere Kurden Nordiraks auch -, dass die Beamten und Parteien korrupt sind und "den größten Teil des Kuchens" für sich beanspruchen. Und auch dem Justizsystem traut er ebenso wenig zu, wirklich unabhängig zu sein.
Auf Kosten der Zivilbevölkerung
Ein weiteres Beispiel für die anhaltende Misere ist ein Lehrer aus Sulaimaniya, der 2009 die Universität abgeschlossen hatte und bis 2014 auf eine Anstellung warten musste. Er ist noch nicht verheiratet und lebt bei seinen Eltern, da er bislang keine Chance sieht, sich eine eigene Zukunft aufzubauen. Sein ursprüngliches Einkommen von ca. 500 Euro wurde aufgrund des staatlich verordneten Sparsystems auf 280 Euro reduziert und wird zudem nicht regelmäßig ausbezahlt. Teilweise kommt das Gehalt mit mehrmonatiger Verspätung. Oft kommt es vor, dass zunächst die Mitarbeiter einiger Ministerien zuerst ihr Gehalt bekommen, nachfolgend die anderer Ministerien.
Eine weitere Folge der Sparmaßnahmen ist die Verschlechterung des Zustandes der Infrastruktur in der Region, Wegen und Straßen sind marode. Nach einem sehr regenreichen Jahr zeigt sich nun deutlich, dass kein Geld für die Sanierung der Straßen zur Verfügung steht oder aufgewendet wurde, weshalb die Unfallzahlen stetig steigen.
Jede Nachricht – oft genügen schon Gerüchte innerhalb der Bevölkerung – in Hinblick auf bevorstehende Regierungsumbildungen, Öffnungen oder Schließungen von Flughäfen oder Grenzen wirken sich unmittelbar auf die Preise aus. Dann unterliegen Immobilienpreise, aber auch alltägliche Lebensmittelkosten innerhalb weniger Wochen oder Monate extremen Preisschwankungen.
Perspektivlose jüngere Generation
In diesen Zeiten wirtschaftlicher und politischer Unsicherheiten sieht insbesondere die jüngere Generation keine Zukunftsperspektiven in der Region. Das Schulsystem und die Universitäten sind von den Sparmaßnahmen ebenso betroffen wie alles andere. Und die Absolventen glänzen nicht etwa durch Praxisorientierung, Expertise, Innovation und neue Ideen. Die meisten von ihnen hoffen nach ihrem Abschluss auf eine rasche Anstellung als Beamte und beklagen allzu oft, dass diese Stellen meist für Personen mit guten Beziehungen reserviert sind.
Und nicht wenige von ihnen sehen ihre Karriere daher bei den Peschmerga oder Dschihadisten als einzig realistische Option. Wer es schafft, genügend Geld aufzubringen, verlässt seine Heimat und versucht nach Europa auszuwandern.
Dabei gäbe es durchaus eine wirtschaftliche Perspektive für die Region Nordirak-Kurdistan, so beispielsweise im Tourismus-Sektor oder in der Landwirtschaft. Vor allem die fruchtbaren Berge Kurdistans hätten ein sehr großes Potenzial, was sich in den Jahren des Aufbruchs vor 2014 ja auch schon gezeigt hatte. Doch dieser Prozess ist nunmehr ins Stocken geraten. Der Grund: Es fehlen derzeit langfristige strategische Planungen und Investitionen, um die agrarwirtschaftlichen und touristischen Potenziale wirklich intensiv zu nutzen.
Dara Alani
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