Die Perspektive der Vielen

Tahir Della von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland kämpft für die Selbstermächtigung schwarzer Menschen, eine konsequente Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit und mehr Sensibilität für die vielfältigen Formen von Rassismus. Ceyda Nurtsch stellt ihn für Qantara.de vor.

Von Ceyda Nurtsch

Tahir Della ist hochgewachsen und spricht mit einem rollenden "R". Als Sprecher der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland erzählt er von dem noch immer tief verwurzelten Rassismus in der deutschen Gesellschaft. Er spricht über Racial Profiling und den Zusammenhang von europäischer Kolonialgeschichte und Rassismus. Seit nunmehr 35 Jahren redet Della über diese Themen. Immer und immer wieder.

Della ist 1962 in München geboren. Seine Mutter ist Deutsche, der Vater US-Amerikaner. Wie bei vielen People of Color ziehen sich rassistische Erfahrungen durch sein Leben. Als Jugendlicher fängt er an, sich für Politik zu interessieren. Es ist der Großvater, der ihn anspitzt auf die Themen, die seine Identität und seinen Alltag bestimmen: Ausgrenzung, Rassismus, die Geschichte der Versklavung, Kolonialismus.

Schlüsselerlebnis bei der Lektüre von "Farbe bekennen"

1986 hat er bei der Lektüre des Buches "Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte" (herausgegeben von Katharina Oguntoye, May Ayim, Dagmar Schultz, Orlanda Frauenverlag) ein Schlüsselerlebnis. In dem Buch erzählen schwarze Frauen von ihren Erfahrungen in Deutschland. "Das war sehr beeindruckend für mich zu lesen, weil es eine Lücke geschlossen hat", erzählt Della. "Was die Frauen aus ihren Diskriminierungserfahrungen machen. Dass sie sagen, lasst uns politisch aktiv werden und selbst das Heft in die Hand nehmen. Wir können nicht darauf hoffen, dass die Mehrheitsgesellschaft diese politische Arbeit für uns macht."

Noch im selben Jahr gründen sich die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und ADEFRA, der Verein afrodeutscher Frauen. Della ist mit dabei, als die schwarze Community ihre ersten eigenen Strukturen aufbaut. Ziel ist es, über sich selbst zu bestimmen und nicht von anderen bestimmt zu werden.

 

Verengtes Verständnis von Rassismus

Seitdem habe sich einiges zum Positiven gewandelt, meint Della. "Man kann das Thema Rassismus heute eher ansprechen." Doch sehr vieles müsse sich noch verändern. Häufig werde Rassismus vor allem in der rechten Ecke verortet, obwohl er nicht nur dort vorkommt. Zudem herrsche ein verengtes Verständnis von Rassismus, das von einer bewussten Intention zur Diskriminierung ausgehe. Aber rassistische Äußerungen gebe es auch, wenn keine Absicht vorliegt.

Auch im Justiz- und Polizeibereich müsse noch viel geschehen. Als Beispiel nennt er die rechtsextreme Mordserie des NSU. "Auf politischer Ebene und auf der Ebene der Sicherheits- und Ermittlungsbehörden wurden keine Konsequenzen gezogen, obwohl es im Fall NSU ein flächenübergreifendes Nichtermitteln aufgrund von rassistischen Vorbehalten und Zuschreibungen gab." Noch immer spreche man lieber von Einzelfällen als von systemischem, strukturellem Rassismus.

Und immer wieder käme es zu Rückschlägen. Etwa, wenn Bundesinnenminister Seehofer eine Rassismusstudie bei der Polizei mit dem Argument ablehnt: Was verboten sei, müsse ja nicht untersucht werden.Am besten, so Della, gehe man gegen Rassismus vor, indem man über seine Erscheinungsformen informiert und sachlich beschreibt, was sie bedeuten und vor allem, was sie bei den Betroffenen auslösen. Das ist zäh, gerade bei den Behörden. "Wir müssen erst einmal die Abwehrreflexe durchbrechen, die verhindern, dass wir diese Diskussion umfassend führen. Sonst sprechen wir stets von Einzelfällen und einzelnen Verfehlungen, weil wir sonst etwa die Polizei unter Generalverdacht stellen würden."

Rassismus und Kolonialismus: zwei Seiten einer Medaille

Tahir Della ist davon überzeugt, dass Rassismus und Kolonialismus zusammen gedacht und diskutiert werden müssten, weil sie einander bedingen. Doch lässt sich die Kolonialgeschichte Deutschlands überhaupt mit der Vergangenheit von Großbritannien, Frankreich oder Portugal vergleichen?

Der Kolonialismus, sagt Della, war ein europäisches Projekt. "Deutschland war ein wichtiger Akteur, immerhin hat Bismarck 1884 zur Afrika-Konferenz nach Berlin eingeladen, um den afrikanischen Kontinent unter den europäischen Mächten aufzuteilen. Das Herrschaftssystem, das damals aufgebaut wurde, funktioniert bis heute. Unter den Folgen leiden die Menschen im globalen Süden, während wir im Norden bis heute davon profitieren."

 

Um Kolonialismus sichtbar zu machen, setzt sich Della, etwa im Rahmen des Berliner Projekts "Dekoloniale Erinnerungskultur in der Stadt" für die Umbenennung von Straßennamen ein, die unkritisch an Akteure des Kolonialismus erinnern.

Dass Della bei seiner Arbeit häufig auf Widerstand stößt, ist nicht verwunderlich: "Die globalen wirtschaftlichen Verhältnisse basieren ja ganz maßgeblich auf diesen 500 Jahren des europäischen kolonialen Projekts. Deswegen tun wir uns im globalen Norden auch so schwer, uns seine Folgen klar zu machen. Weil wir im Grunde unseres Herzens wissen, dass es nicht nur darum geht, sich zu entschuldigen, und zu sagen, das ist nicht gut gelaufen in den letzten 500 Jahren. Es müsste dazu kommen, dass wir auch mit den Folgen brechen. Das bedeutet konkret etwa, heute die Märkte für den globalen Süden zu öffnen. Und nicht nur unseren ganzen Computer- und sonstigen Müll an den Küsten Westafrikas abzulagern", so Della.

Eine Gesellschaft der Vielen

Vielen schwarzen Menschen, erzählt Tahir Della, gehe allmählich die Geduld aus. Sie wollten nicht mehr erklären müssen, dass bestimmte Begriffe, Bezeichnungen oder Verhältnisse für sie nicht hinnehmbar und manche Themen nicht verhandelbar sind. "Wir wollen unsere Einordnung und Wahrnehmung nicht diskutieren. Wir wollen, dass sie zur Grundlage von Debatten und Diskursen wird."

Deswegen setzt sich Tahir Della unermüdlich weiter für eine "Gesellschaft der Vielen" ein. Er will ein Land, in dem diese Vielen, die die Gesellschaft in Deutschland ausmachen, gleichberechtigt bei der Ausprägung der gesellschaftlichen Werte und Normen berücksichtigt werden. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Della wird weiter streiten für eine Gesellschaft, die Diskriminierung ernsthaft bekämpft und sie nicht als einen Teil ihres Wertekanons betrachtet.

Ceyda Nurtsch

Qantara.de 2020