Atatürk – vom Staatsgründer zum Mythos
Vielen ist er bekannt als "Vater der Türken" und Begründer der modernen Türkei: Mustafa Kemal Atatürk. Gleichwohl gilt er als einer der umstrittensten Politiker des 20. Jahrhunderts. Halil Gülbeyaz beleuchtet in einer neuen kritischen Biografie das Leben und Wirken Atatürks.
Als er 1938 starb, war er bereits überlebensgroß: Mustafa Kemal, der sich selbst "Atatürk", Vater der Türken, nennen ließ, konnte auf ein wahrhaft gigantisches Lebenswerk zurückblicken. Seine 56 Lebensjahre waren eine Abfolge geradezu epochaler Taten, von denen jede einzelne leicht seinen Untergang hätte bedeuten können. Vieles ist hier nur vage bekannt, und Schlagwörtern wie Atatürk, der Staatsgründer, der Reformer, die Ikone etc. fehlt häufig die historische Grundlage.
Nun legt der Hamburger Filmjournalist Halil Gülbeyaz, der bereits eine Dokumentation zum gleichen Thema gedreht hatte, mit "Mustafa Kemal Atatürk – Vom Staatsgründer zum Mythos", die spannende Biografie dieser ambivalenten Persönlichkeit vor.
Atatürk – "Retter von Istanbul"
Gülbeyaz ordnet Atatürks Leistungen in den historischen Kontext ein: die marode Situation des Osmanischen Reiches um die Wende zum 20. Jahrhundert.
Bereits im Ersten Weltkrieg wird Mustafa Kemal, der bei der legendären Schlacht von Gallipoli die Dardanellen verteidigt, als "Retter von Istanbul" zu einer Legende. Der Feldherr, der nur widerstrebend an dem Kriegsgeschehen teilnahm, findet den Vertrag von Sevres, der de facto eine völlige Aufteilung der Türkei unter die Siegermächte bedeutete, inakzeptabel.
Laizismus und Modernismus als große Vorbilder
Nachdem er sich schrittweise von der Istanbuler Regierung entfernt, in Ankara ein zweites Machtzentrum gründet und schließlich an die Schalthebel der Macht gelangt, kann er die territoriale Unversehrtheit der Türkei sichern. Im Vertrag von Lausanne kann er auch ihre Unabhängigkeit durchsetzen. Die anschließende Entmachtung und Abschaffung des Sultanats – und damit die Einführung der Trennung von Staat und Religion – geht einher mit einer Reihe von weiteren drastischen Reformen, die er oft gegen Widerstände der traditionellen Bevölkerung durchsetzte.
Die Abschaffung der traditionellen osmanischen Kleidung, eine allgemeine Alphabetisierungskampagne und die Einführung der lateinischen Schrift sind nur einige der Maßnahmen, in denen sich Atatürks Wille zur umfassenden Modernisierung der Türkei äußert.
Neben der minuziösen Aufarbeitung dieser Geschehnisse wirft Gülbayaz auch ein Schlaglicht auf Atatürk, den "Lebemann", der sich schon an der Militärschule gerne im Rotlicht- und Kneipenviertel umher trieb und noch als Ministerpräsident alle Konventionen missachtete: der Staatsmann umgab sich gerne mit modernen, selbstbewussten Frauen und führte – als einer der ersten in ganz Europa – das Frauenwahlrecht ein.
Der Januskopf der türkischen Moderne
Als Kehrseite solch modernistischer Ambitionen erscheint deren bisweilen erschreckend brutale Umsetzung, etwa der Umgang mit ethnischen und religiösen Minderheiten: Auf Atatürks Konto geht beispielsweise die blutige Niederschlagung des Kurdenaufstandes bei Dersim, mit einigen zehntausend Toten, darunter viele Zivilisten.
Und als Mustafa Kemal bei der Einführung des Mehrparteiensystems die frisch gegründete Oppositionspartei in der Mehrheit sieht, nimmt er einen Attentatsversuch zum Anlass, Haftstrafen und Todesurteile gegen Widersacher und ehemalige Kampfgenossen zu verhängen. Atatürks Sprachduktus, seine Argumentation – vor allem in der mehrtägigen Marathonrede "Söylev"–, dies alles geschehe im Dienste des Volkes, erinnert fatal an die Rhetorik berüchtigter Diktatoren.
Doch immer wieder ist auch die besondere Situation zu berücksichtigen, das Überleben eines von allen Seiten bedrängten Staates zu sichern. Völlig untypisch für manchen orientalischen Herrscher, erteilt Atatürk ein für allemal sämtlichen türkischen Großmachtsambitionen eine Absage und wahrt auch im Zweiten Weltkrieg strikte Neutralität.
Realitätsverlust und Flucht in Ausschweifungen
Bei der spannenden Schilderung dieser historischen Ereignisse wünscht man sich bisweilen eine distanziertere Analyse, in der noch einmal die Bedeutung für die türkische Gegenwart dargestellt wird. Das spannende, aber leider viel zu kurze Schlusskapitel zeigt, was möglich gewesen wäre. Auch wird man bei all den Großtaten neugierig auf ein "Mehr" an privater Betrachtungsweise, die sich verstärkt an Augenzeugenberichten orientiert. Dies würde die Befindlichkeit dieses "vaterlos aufgewachsenen Vaters aller Türken" greifbar machen, einer Person, die vor der übergroßen Verantwortung in Realitätsverlust und ausschweifenden Lebenswandel flüchtete, dem er letztendlich zum Opfer fiel.
Das Hauptverdienst von Gülbeyaz` Biografie liegt darin, dass er auf die gängige Huldigung Atatürks, wie in vielen türkischen Monografien der Fall, verzichtet und aus der Fülle des Materials, aus Zeitschriftenartikeln, Tagebüchern, Redetexten klug und unbestechlich ausgewählt hat, um die abenteuerliche Lebensgeschichte zu rekonstruieren.
In Zeiten, wo übereilt Meinungen über die EU-Tauglichkeit oder die angebliche Demokratie-Unfähigkeit der Türkei abgegeben werden, ist die Kenntnis der jüngeren türkischen Geschichte von Nutzen. Das Buch von Halil Gülbayaz leistet in diesem Sinne einen wichtigen Beitrag.
© Amin Farzanefar, Qantara.de 2004
"Mustafa Kemal Atatürk. Vom Staatsgründer zum Mythos" von Halil Gülbeyaz ist im Parthas Verlag, Berlin, erschienen.