Kriminalisierte Helfer
Über 11 Millionen Syrer sind auf der Flucht vor Krieg, Hunger und Tod. Die meisten leben in Syrien oder in den Nachbarstaaten Libanon, Jordanien und Türkei. Nur einige Hunderttausend wollen nach Europa fliehen – eine Minderheit. Doch die EU macht ihre Grenzen dicht: Einreisevisa sind kaum zu bekommen.
Den an Leib und Leben bedrohten Menschen bleibt deshalb oftmals nur die Flucht. Dabei sind sie auf Unterstützung angewiesen: Sie brauchen Fluchthelfer, die für sie falsche Papiere, Transportmittel, Nahrung, Kleidung und Unterkünfte organisieren und die die verschiedenen Etappen der Flucht koordinieren. Diese Fluchthelfer müssen bezahlt werden.
Fluchthelfer oder Schwerverbrecher?
Menschen, die anderen bei der Flucht helfen, nennt man auf Deutsch Schleuser oder Menschenschmuggler (arabisch: "muharribun"). Einige Schleuser sind in erster Linie am Profit interessiert und kümmern sich wenig darum, ob ihre "Kunden", die Flüchtlinge, sicher am Ziel ankommen. Doch es gibt auch Fluchthelfer, die nicht aus Interesse am Geld handeln, sondern weil ihre Verwandten, Freunde oder Bekannten sie um Hilfe bitten. Dieser Unterschied sollte gerade in Deutschland juristisch von Bedeutung sein, wo während der Nazidiktatur von 1933 bis 1945 und nach dem DDR-Mauerbau von 1961 bis 1989 viele Menschen nur dank Fluchthelfern am Leben blieben oder die Freiheit erlangten.
Doch weit gefehlt. Obwohl bekannt ist, dass in Syrien ein grausamer Krieg tobt, werden syrische Fluchthelfer in Deutschland wie Schwerstkriminelle behandelt – auch wenn sie sich nachweislich menschlich korrekt verhalten haben. Deutsche Richter, Staatsanwälte und Politiker brandmarken syrische Fluchthelfer öffentlich als Terrorunterstützer und lasten ihnen Taten an, die sie nicht begangen haben. Medien übernehmen unhinterfragt Vorverurteilungen, beschimpfen die Fluchthelfer als "gewissenlose Menschenhändler" oder "Mörder" und tragen dazu bei, die berufliche und soziale Existenz der Betroffenen zu zerstören.
Ermittlungssache "Cash"
Was das im Einzelfall bedeuten kann, darüber hat der deutsche TV-Reporter und Nahostexperte Stefan Buchen jetzt ein ebenso packendes wie verstörendes Buch geschrieben.
Die Geschichte, die Buchen erzählt, beginnt am 29. Januar 2013. An diesem Tag geben die Bundespolizei in Berlin und die Staatsanwaltschaft Essen bekannt, dass sie im Rahmen einer europaweiten Aktion eine "internationale Schleuserbande" zerschlagen hätten. Unter dem Codenamen "Cash" seien an 37 Orten in ganz Deutschland Wohnungen durchsucht und Beschuldigte festgenommen worden. In der Stadt Ahlen in Westfalen kam die Spezialeinheit "GSG 9" zum Einsatz. Außerdem habe es Festnahmen in Griechenland und in Polen gegeben. Der "Kopf der Bande" sei ein 58-jähriger Syrer mit Wohnsitz in Essen. Er habe damit vermutlich 300.000 Euro Gewinn erzielt. Zwar habe man kein Bargeld gefunden, aber sein Einfamilienhaus sei vorerst beschlagnahmt.
Tendenziöse Ermittlungen, haltlose Vorwürfe
Stefan Buchen, der unter anderem als Autor für das renommierte TV-Politmagazin "Panorama" arbeitet, kennt Syrien gut. Die Darstellung von Polizei und Staatsanwälten weckt seine Neugierde. Handelt es sich bei den Festgenommenen wirklich um Schwerstkriminelle, die sich bereichern wollen?
Buchen recherchiert umfassend: Er führt zahlreiche Interviews mit allen Beteiligten und arbeitet sich durch Berge von Ermittlungsakten. Dabei entsteht nach und nach ein völlig anderes Bild: Der "Kopf der Bande" war kein Profi-Menschenhändler, sondern ein festangestellter Ingenieur, der täglich zur Arbeit ging und der bis zum Beginn des Krieges in Syrien im Herbst 2011 mit Fluchthilfe nichts zu tun gehabt hatte.
Sein Gewinn – wenn er überhaupt einen solchen erwirtschaftete – war vergleichsweise bescheiden. Es handelte sich auch nicht um eine "Bande", sondern um ein loses Netzwerk von Syrern, die sich ebenfalls nach dem Beginn des Krieges in Syrien gefunden hatten und die ausschließlich syrischen Flüchtlingen halfen. Keiner der „Kunden“ der Fluchthelfergruppe hatte sich auf der Flucht schlecht behandelt oder gar bedroht gefühlt.
Der ausgeblendete Krieg in Syrien
Doch die Richter und Staatsanwälte sehen das anders. Beharrlich stützen sie sich auf Ausländergesetze und Einreisebestimmungen, klammern sich an Texte. Die reale Bedrohung in Syrien, vor der die Menschen geflohen sind, wird dabei von ihnen systematisch ausgeblendet. "Das Politische an diesem Prozess ist die totale Entpolitisierung des Sachverhalts", schreibt Stefan Buchen, "ein hochpolitischer Vorgang mit weitreichenden moralischen Implikationen wird allein nach strafrechtlichen Normen bewertet".
Der Wille zur Entpolitisierung zeigt sich auf beklemmende Weise auch an der Wortwahl der Juristen: Aus "Flüchtlingen" werden in den "Cash"-Gerichtsakten "Schleusungswillige"; der Krieg in Syrien heißt nicht Krieg, sondern: "Die wachsende politische Situation".
Auch die deutsche Vergangenheit wird ausgeblendet. Stefan Buchen ruft in Erinnerung, dass während der Nazizeit 1933-1945 dank Fluchthelfern zehntausende Juden und Nichtjuden vor der Vernichtung gerettet werden konnten. Buchen erinnert auch daran, wie man in den 1970er Jahren im innerdeutschen Kontext mit Schleppern und Schleusern umging: So klagte 1977 ein westdeutscher Fluchthelfer vor einem bundesdeutschen Gericht erfolgreich sein "Honorar" ein. Eine Familie aus der DDR, der er zur Flucht verholfen hatte, hatte sich um einen Teil der Zahlung drücken wollen. Pikanterweise war das "Honorar", das die bundesdeutschen Richter dem Fluchthelfer damals zusprachen, relativ gesehen höher als die "Honorare" der syrischen Fluchthelfer heute.
Doppelzüngige Politik und Medien
Buchen prangert auch die Doppelzüngigkeit von Politik und Medien an. So würde behauptet, hartes Durchgreifen sei notwendig, um Flüchtlinge vor Menschenhändlern zu schützen. Doch Tatsache sei, dass Europa den Flüchtlingen nahezu jede legale Möglichkeit versperre, schreibt der Autor: "Schleuser bieten gegen Geld eine Dienstleistung an. Die Flüchtlinge fragen die Dienstleistung nach, wenn sie feststellen, dass es einen anderen, leichteren, ungefährlicheren und auch preiswerteren Weg aus der eigenen Lebensgefahr oder der ihrer Familien nicht gibt", stellt Buchen fest.
Stefan Buchen stilisiert die Fluchthelfer, die in Essen vor Gericht standen, nicht zu moralischen Helden. Keiner der Angeklagten habe ausschließlich aus selbstlosem, humanitärem Antrieb gehandelt. Die Angeklagten seien auch keine Revolutionäre oder Regimegegner gewesen.
Aber ebenso wenig hätten die Angeklagten jemals danach gestrebt, "Schleuser" zu sein, meint der Autor: "Sie sind zu dieser Tätigkeit gekommen, weil sie einen Bezug zu Syrien haben und weil der Krieg in Syrien ein ungeheures Flüchtlingsdrama hervorgerufen hat. Die Angeklagten haben nur syrische Flüchtlinge geschleust, sonst niemanden."
Die Ermittlungen und die Urteile hatten für alle beteiligten Fluchthelfer und ihre Familien einschneidende Folgen: Der mittlerweile 60-jährige Ingenieur hat seine Arbeitsstelle verloren und musste über 150.000 Euro Strafe zahlen; ein syrisch-französischer Taxifahrer wurde zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt; ein junger syrisch-griechischer Familienvater, der eigentlich als Kellner arbeitete, ist von seiner Frau und seinen drei Kindern getrennt, weil er in Haft sitzt.
Zu den Stärken des Buches gehört, dass der Autor einerseits die persönlichen Begegnungen eindrucksvoll und emotional schildert und dass er andererseits sehr präzise mit Inhalten und Begriffen umgeht.
Die juristische Materie ist für Laien teilweise recht komplex. Dennoch ist das Buch äußerst lesbar und spannend geschrieben - eine packende Lektüre, die viele wichtige Fragen aufwirft, über das Verhältnis von Recht, Gesetz und Moral in Deutschland.
Martina Sabra
© Qantara.de 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Stefan Buchen: "Die neuen Staatsfeinde – Wie die Helfer syrischer Kriegsflüchtlinge in Deutschland kriminalisiert werden", Dietz-Verlag Bonn, Juli 2014, ISBN 978-3-8012-0451-8