Das Leben ist anderswo
Daouds Lebenslauf scheint zunächst nichts Spektakuläres zu bieten: Als Sohn eines Teppichverkäufers in Tunis erfährt er früh die Beschränkungen und Demütigungen, die einen jungen Araber seiner sozialen Stellung zu Beginn des 20. Jahrhunderts treffen. Die Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung sind gering, der Vater bestimmt über die Zukunft des Sohns, und so wird Daoud kurzerhand in seinem Geschäft angestellt und muss sein großes Freiheitsbedürfnis und seine Neugier auf das Leben vorerst in Form von gelegentlichen Geschäftsreisen nach Italien kompensieren.
Da sich seine Mutter früh von ihrem treulosen Mann getrennt hat, ist Daoud auf seine Ersatzmutter angewiesen, Mouldia, die gute Seele des Hauses, die ursprünglich als Sklavin in den Haushalt kam, einst als Sechsjährige aus der Sahara verschleppt wurde und bereits Daouds Vater aufzog. Ihren beeindruckenden Geschichten von einer ganz anderen fernen Wüstenwelt lauscht Daoud andächtig.
Feuer und Flamme für einen Pilotenschein
Bilder und Geschichten, die von der Fremde erzählen, wecken in Daoud jedes Mal das Verlangen nach Grenzüberschreitung und Selbstverwirklichung. Berensky, ein russischstämmiger Geschäftsmann und Luftschiffer, den er zufällig in Tunis kennenlernt, animiert ihn dazu, den Pilotenschein für den Fesselballon zu machen. Sofort ist Daoud Feuer und Flamme und stellt sich vor, die Welt per Luftschiff zu bereisen und von weit oben zu betrachten. Doch die Kolonialverwaltung gestattet es nicht, dass er als "Einheimischer" die Lizenz zum Fliegen erhält.
Daoud wird auf Grund solcher drangsalierender Bestimmungen geradezu gedrängt sich mit Freunden zusammenzutun, politische Statements und flammende Pamphlete zu verfassen und die Bevölkerung zum Widerstand gegen die Protektoratsregierung aufzurufen. Freiheitliche Bestrebungen, die es an vielen Stellen im Land gibt, führen zu Repressalien und Verfolgungen der Aktivisten, so dass es 1906 zu Aufständen im Landesinnern kommt, einem folgenreichen historischen Ereignis, von dem im Roman die Rede ist.
Doch mehr als ein Rebell ist Daoud eine tragische Figur. Die Autorin hat seine Geschichte so angelegt, dass wir gleich am Anfang von seiner schweren Verwundung im Ersten Weltkrieg und der Einlieferung in ein französisches Militärlazarett erfahren. In seinem Krankenbett, von Schmerzen und Morphiumspritzen halb benommen, umgeben von Hunderten anderer Verletzter, beginnt Daoud in der Rückschau sein bisheriges Leben zu rekonstruieren.
Keine Perspektive
Dem tunesischen "Yankee", der in Amerika Dawood genannt wird, gelingt es zwar nach vielen vergeblichen Versuchen, seiner trostlosen Heimat, in der es keine Perspektive für ihn gibt, zu entkommen. Doch es gehört zur Tragik seines Lebens – und zur melancholischen Grundmelodie des Romans –, dass er seinen zähen Kampf um Selbständigkeit und den Versuch sich mit Elena, einer in Amerika gestrandeten italienischen Exilantin, die auf demselben Dampfer wie er auf der Überfahrt war, eine Existenz aufzubauen, immer wieder verliert.
Geschickt verknüpft die Erzählerin die unterschiedlichen Zeitebenen, von denen Daoud aus seiner Erinnerung berichtet, mal befinden wir uns in Tunesien, im Reich des despotischen, engstirnigen Vaters, mal in New York im Stadtteil "Little Syria", wo Arabisch gesprochen wird und sich die eigentlich hoffnungsfrohe Zeit für Daoud abspielt, mal erinnert sich Daoud an Nora, eine Zirkusartistin, in die er sich einst in Tunesien verliebte und von der er lange Zeit träumte, dann wieder sind wir mitten im Krieg, auf dem Feldzug in Frankreich, wo Daoud beim Versuch einen Kameraden zu retten lebensgefährlich verletzt wird.
Reminiszenzen an Célines "Reise ans Ende der Nacht"
Die Erzählerin findet für all diese unterschiedlichen Erinnerungsebenen ihres Protagonisten einen eigenen Ton und eine bildergesättigte Sprache, in der sie die verschiedenen Lebensstationen Daouds anschaulich in Szene setzt. Mitunter schildert sie das Kriegsgeschehen so lapidar und bitter wie Céline in seiner "Reise ans Ende der Nacht": "Der nächste Schub junger Männer, der umgelegt wird, arme Kegelfiguren auf dem Brett unsichtbarer Spieler."
Dann wieder bedient sie sich einer lyrischen Sprache, in der das Poetische mitunter fast ins Blumige abgleitet: "Ihr Flüstern ist kaum hörbarer als das Lispeln der Eukalyptusblätter in der lauen Brise hinter ihnen." Man muss die großartige Leistung der Übersetzerin Regina Keil-Sagawe würdigen, die den hohen Ton des Romans ins Deutsche hinüberrettet.
Zahllose Details der Zeitgeschichte
Der Roman liest sich mitunter, als würde er sich auf eine echte Biografie stützen (worauf auch die historischen Fotos auf dem Buchcover hinzudeuten scheinen), die zahllosen Details der Zeitgeschichte und die verschiedenen Handlungsorte sind hervorragend recherchiert.
Auch der typische optimistische Fortschrittsgeist jener Epoche ist glänzend eingefangen, Daouds Glaube an sich und an die Möglichkeiten, die er sich verschaffen will. Dabei ist die Luftschifffahrt ein treffendes Symbol für seine gesteigerte Utopieerwartung und seine unzerstörbare Hoffnung, seinem allzu kleinen, beschränkten Leben zu entkommen.
Dennoch ist der Roman keineswegs auf seine historische Bedingtheit zu reduzieren, vielmehr liest er sich geradezu parabelhaft als Beispiel eines modernen Vertriebenen, der auf der ganzen Welt auf der Suche nach einem würdigen Leben ist und dem stets die Angst im Nacken sitzt, an den Ländergrenzen abgewiesen und von den Behörden aufs Neue zurückgeschickt zu werden.
Ein beeindruckendes Sprachkunstwerk, das uns viel von der Persönlichkeit seiner tragischen Hauptfigur erzählt.
Volker Kaminski
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Cécile Oumhani: "Tunisian Yankee", aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe, Osburg Verlag 2018, 304 Seiten, ISBN 978-3-95510-164-0