Teilen im globalen Maßstab
Wer auf schwankendem Grund steht, klammert sich an Bekanntes. Raum für Utopien gibt es nicht mehr, nur noch für die Abwehr von Schlimmerem. Doch gerade jetzt bräuchten wir Utopien, schreibt Charlotte Wiedemann in ihrem Buch "Der lange Abschied von der weißen Dominanz". Denn die Zukunft müsse global neu ausgehandelt werden, unter Zuhilfenahme von Wissen und Werten auch außerhalb des weißen Westens. Die von ihm geprägte Weltsicht komme an ihr Ende.
Die mehrfach ausgezeichnete Journalistin Charlotte Wiedemann befasst sich seit Jahren mit, wie sie es sagt, islamischen Lebenswelten. Mali ist eines ihrer Schwerpunktländer in Afrika, und zuvor hat sie länger aus Südostasien berichtet. Im Gegensatz zu manch anderem Experten schreibt hier ein Mensch, der sich mit transkulturellen Perspektiven und globalen Perspektivwechseln auskennt.
"Kein Zurück in gemütliche Eindeutigkeiten"
"Weiße Dominanz zeigt sich im Verbrauch von Ressourcen, in Wirtschaftsmacht und Finanzströmen, in der Deutung von Konflikten, in der Geschichtsschreibung. Auf all diesen Feldern bricht ein neues Zeitalter an", schreibt Wiedemann. Jahrhundertelang hat der Europäer den Globus machtpolitisch dominiert, ihn mit der kapitalistischen Marktwirtschaft überzogen, die bis heute vor allem einem zugutekommt: ihm selbst. Die Aufarbeitung der Kolonialverbrechen beginnt erst jetzt, und das Bewusstsein dafür, dass unsere Wirtschaft bis heute von kolonialen Strukturen getragen wird, entwickelt sich träge und zäh. Die neue Welt, sie ist multipolar und hochkomplex. Ja, das kann Angst machen und einschüchtern. Doch dass die Welt sich so dramatisch ändert, ist laut Wiedemann alternativlos. "Es gibt kein Zurück in die gemütlichen Eindeutigkeiten."
Da ist zum einen das demografische Argument: "Ein gravierendes Ungleichgewicht wird jetzt in eine bessere Balance gebracht." Eine Minderheit von 510 Millionen EU-Europäern und 325 Millionen US-Amerikanern dominiert nicht mehr die Geschicke einer Menschheit von bald acht Milliarden. Da springt der Rechtspopulist sofort auf und wähnt "die Muslime" und "die Afrikaner" am Horizont, die aufgrund ihrer angeblich so hohen Geburtenraten das Abendland bald übervölkerten. Dabei haben zum einen nur 16 Prozent der migrantischen Familien in Deutschland drei oder mehr Kinder, schreibt Wiedemann, und zum anderen: Wenn mehr Menschen mehr mitbestimmen dürfen – dann ist das zutiefst demokratisch.
Wir leben auf der Sonnenseite der Geschichte, trotz des vielfältigen Erbes der gewalttätigen Einflussnahme auf andere. Es sei beschämend, wie welcher Zögerlichkeit das Erbe des Kolonialismus aufgearbeitet werde. Augenfällig ist das bei der Diskussion um die Rückgabe geraubten Kulturgutes, die nun immerhin Fahrt aufnimmt. Aber mehr noch in ethisch-moralischen Kategorien: Lange Jahre haben die weißen Eroberer Menschen wie Tiere behandelt, sie millionenfach als Sklavenmaterial verschifft – und heute beschneidet Europa das Grundrecht des Menschen, sein eigenes Land verlassen zu dürfen.
Das weiße Erbe
Natürlich weiß die Autorin um die Beharrungskräfte der Alteingesessenen. In Zeiten des Umbruchs haben die Menschen sich schon immer der eigenen Identität versichert, indem sie auf Schwächere blickten. Während der noch bis ins 20. Jahrhundert andauernden Menschenschauen galt das sogar wörtlich. Zwar gibt es Rassismus in jeder Gesellschaft und Gruppe. "Doch die systematische Abwertung anderer Kulturen, gestützt durch Wissenschaft, Wirtschaft, Kirchen, Militär und über einen unfassbar langen Zeitraum, das ist weißes Erbe", so Wiedemann.
Sie schreibt das nicht anklagend – das würde sie sich nicht anmaßen. Doch sie konstatiert, dass es fast an Gehirnwäsche grenze, "die Arbeitsleistung der Zugewanderten zu verdrängen, obwohl sie unter aller Augen stattfindet, und ihre Anwesenheit in eine Last umzudeuten." Heimlich und leise sei so ein früherer Sündenbock verschwunden, der faule deutsche Sozialhilfeempfänger, und durch einen neuen ersetzt worden: "Florida-Rolf ist jetzt Muslim."
Das Augenöffnende an Wiedemanns Buch ist, dass es so undogmatisch daherkommt. Es ist gewinnbringend, über die noch jungen und vielen Privilegierten unbequem erscheinenden Denkgebäude wie Critical Whiteness oder Intersektionalität zu lesen. Wiedemann nähert sich diesen komplexen, mit schweren Rucksäcken historischer Bedeutung beladenen Themen neugierig und mit klarem Blick. Sie will vernetztes Denken fördern.
Zum Beispiel zum Klima, wenn sie sich auf den Hitzesommer 2018 bezieht: Manch Deutscher mag da zum ersten Mal gefühlt haben, wenn Gewissheiten wie die Folge der Jahreszeiten ins Wanken kommen. Ja, Klimawandel kann ein Grund zur Flucht sein, und es sei kein Zufall, dass gerade die Rechtspopulisten ihn leugnen. Denn das würde sie ja zwingen, ein ganzes Bündel tatsächlicher Fluchtursachen anzuerkennen. Für hunderttausende Kleinbauern des globalen Südens etwa ist längst Realität, was sie anzweifeln. "Keine Bäuerin in der Sahelzone käme auf die Idee, den Klimawandel für eine Erfindung zu halten; das Recht auf Nichtwissen gerät gar nicht erst in ihre Reichweite."
Am Ende steht eine Erkenntnis, die auch viele Menschen im Westen fühlen: dass der auf Profitmaximierung angelegte Kapitalismus so nicht mehr funktioniert. Weil er Arbeitsbedingungen schafft, "die Abertausend Menschen krank machen, verletzen oder ihnen sogar den Tod bringen, ohne dass dafür jemand verantwortlich sein will."
Europas Blockade fairer Regeln
Europa behindere die Aushandlung fairer Regeln eher, als dass es sie einfordert. Auch deshalb ist es so erbärmlich, dass die europäischen Gesellschaften sich abschotten. "Die Migranten passen sich an die veränderten Bedingungen an, wie es Afrikaner und Afrikanerinnen zu allen Zeiten getan haben. Sie bezahlen dafür einen sehr hohen Preis, und wir sollten begreifen, welche Lektion für uns darin liegt: Die Zeit, in der wir das Verhalten anderer Menschen steuern konnten, ist vorbei."
Charlotte Wiedemanns Buch ist besonders stark in seinen klarsinnigen, fast anekdotisch daherkommenden Analysen. Vielleicht sollte man dazu Stefan Weidners "Jenseits des Westens" von 2018 lesen – ein kluges Buch, in dem der Islamwissenschaftler und Publizist ebenfalls davon spricht, dass ein globales Miteinander neue, nicht vom Westen diktierte Regeln erfordere.
"Wir brauchen eine Vision von Respekt und von Teilen im globalen Maßstab", sagt Charlotte Wiedemann, und es müsse ein machbares Teilen sein, akzeptabel auch für Benachteiligte hierzulande. Um diese Vision geht es. Wiedemann liefert sie nicht, und ein wenig vermisst man das als Leser. Aber sie liefert uns wertvolle Ansätze, mit dieser ungewissen Zukunft gedanklich und moralisch umgehen zu können. Auf den Punkt gebracht: "Dies sind Zeiten des Umbruchs, sie statten uns mit Hellsicht aus, sofern wir es zulassen."
Christopher Resch
© Qantara.de 2019
Charlotte Wiedemann: "Der lange Abschied von der weißen Dominanz", dtv 2019, 288 Seiten, ISBN: 9783423282055