Unter Verdacht

Nach Jahrhunderte langer Isolation machen sich am Hindukusch heute vermehrt ausländische Einflüsse bemerkbar – dazu zählt auch das Christentum, dem Afghanistans islamistische Hardliner den Kampf angesagt haben. Von Martin Gerner

Mann mit Amerika-Pullover in Kabul, Foto: AP
Angesichts negativer Folgen der Modernisierung, die dem Westen zugeschrieben werden, empfinden viele Afghanen Begriffe wie Demokratie als ein Einfallstor, das alles erlaubt

​​"Zurzeit leben in Afghanistan keine Christen. Es gibt auch keine Kirchengemeinde", heißt es in einem Bericht des Flüchtlingshilfswerks UNHCR.

Wenn Afghanen mit Christen in Kontakt kommen, dann in der Regel über eine der 3.000 mittlerweile im Land arbeitenden internationalen Hilfsorganisationen. Anders als unter den Taliban ist es heute vergleichsweise unproblematisch, für eine christliche Hilfsorganisation zu arbeiten.

Die von dem ehemaligen Cap-Anamur-Gründer Rupert Neudeck ins Leben gerufenen 'Grünhelme' zum Beispiel wollen laut Satzung Christen und Muslime bei der Hilfsarbeit zusammenbringen. In einem Fall hat das sogar dazu geführt, dass ein ehemaliger deutscher Mitarbeiter zum Islam konvertierte.

Christliche Organisation sehen sich zu Unrecht unter Verdacht

Im Fall Abdul Rahman verhält es sich völlig anders: "Nach wie vor sollten Afghanen, die für christliche NGOs arbeiten, vorsichtig sein, nicht den Verdacht zu erwecken, sie würden mit dem christlichen Glauben sympathisieren", heißt es im UNHCR-Bericht. Im Fall Abdul Rahman ist jetzt erneut das christliche Hilfswerk "Shelter Now" in die Schusslinie geraten.

Der konvertierte Afghane soll für die Organisation gearbeitet haben, was "Shelter Now" dementiert. Im August 2001 waren insgesamt 24 "Shelter-Now"-Mitarbeiter, darunter vier Deutsche, von Taliban entführt worden. Unerlaubte Missionierung, so lautete der Vorwurf. "Shelter Now" bestreitet das vehement – damals wie heute.

Seriöse Angaben über inoffiziell zum Christentum übergetretene Muslime gibt es nicht. "Fachleute gehen davon aus, dass Religionswechsel in jüngster Zeit vermehrt vorkommen", behauptet der Journalist Harald Biskup, ohne allerdings Gründe zu nennen.

Er könnte sich auf Angaben stützen, denen zufolge seit Juni 2004 in der konservativen Provinz Ghazni und in anderen Regionen Afghanistans insgesamt fünf zum Christentum übergetretene Afghanen ermordet worden seien sollen. In einem Fall soll ein ehemaliger Mullah darunter gewesen sein, der beschuldigt wurde, über "verdächtige Bücher" das Christentum zu verbreiten. Alle fünf Konvertiten wurden erstochen oder zu Tode geprügelt.

Keine nachhaltige Christianisierung

Die Unkenntnis vieler Afghanen über Fremde im Allgemeinen und Christen im Besonderen ist das Ergebnis Jahrhunderte langer geographischer und gesellschaftlicher Abschottung. Zwar missionierte der Apostel Thomas zwischen 42 und 49 n. Chr. in den heutigen Gebieten des Iraks, Irans und Afghanistans. Von einer nachhaltigen Christianisierung am Hindukusch ist allerdings nichts überliefert.

Sikhs, Hindus und Juden gibt es dagegen seit Jahrhunderten und verbürgen eine religiöse Vielfalt. Von den über 3.500 Sikh- und Hindufamilien, die unter den Taliban überwiegend geflüchtet waren, sind inzwischen viele wieder zurückgekehrt.

Sie verfügen über eigene Gotteshäuser und eine politische Interessenvertretung. Das jüdische Leben in Afghanistan pulsierte, insbesondere als Folge der Immigration nach der russischen Oktoberrevolution 1917 bis hin zur religiös-politischen Radikalisierung Anfang der 80er Jahre.

Die abgelegene afghanischen Provinz Nuristan, das ehemalige Kafiristan (zu Deutsch: 'Land der Heiden') wurde erst 1896 islamisiert. Die dort lebenden Kalash und ein Teil ihrer animistischen Riten werden in den Bergregionen, die sie bewohnen, zum Teil bis heute geduldet. Christliche Minderheiten, wie die Armenier im Iran, gibt es in Afghanistan nicht.

Gottesdienste im Schutz der Armee

Wenn heute in Afghanistan Gottesdienste gefeiert werden geschieht dies, wie in Kabul, entweder durch einen Militärpfarrer in einer Kaserne der ISAF-Schutztruppe oder in der italienischen Botschaft, die an das Gelände des Präsidentenpalastes grenzt. Dort wird jede Woche eine ökumenische Messe gelesen. Einige Dutzend Entwicklungshelfer knien dann direkt neben amerikanischen Soldaten, die ihre Waffe zum Gebet selbst mit in das Gotteshaus tragen.

Die aufgeklärte Position des Zentralrats der Muslime in Deutschland, der die Abkehr vom Islam zwar bedauert, das Konvertieren aber als Freiheitsrecht anerkennt, ist in Afghanistan weder verbreitet noch aktuell mehrheitsfähig. Es kann in den Zeitungen nicht einmal offen diskutiert werden.

Widerstand gegen fremd empfundene Modernität

Die Hardliner innerhalb der afghanischen Justiz fühlen sich im Fall Abdul Rahman zudem in der Defensive. Angesichts der rapiden Veränderungen und der dem Westen zugeschriebenen Einflüsse wie Alkohol, Sex-Angebote und Glücksspiel, die in den letzten vier Jahren über sie hereingebrochen sind, empfinden sie Begriffe wie "Demokratie" als ein Einfallstor, das alles erlaubt. Und die Importeure der neuen Verhältnisse in Afghanistan sind nun einmal überwiegend christlichen Glaubens.

Ein Ausweg aus dem Dilemma ist so schnell nicht in Sicht. Der in der afghanischen Verfassung angelegte Konflikt – Anerkennung der Religionsfreiheit und Menschenrechte, aber kein Verstoß gegen islamisches Recht – wird mit dem Fall Abdul Rahman vermutlich nicht zum letzten Mal ausgetragen.

Hilfreich im afghanischen Kontext wäre Bildung. Viele Afghanen wissen nicht, wofür das Christentum steht und welche gemeinsamen Wurzeln es alt-testamentarisch mit dem Islam gibt.

Der Fall Abdul Rahman hat auch erneut Forderungen laut werden lassen, keine christlichen Konvertiten nach Afghanistan abzuschieben. Derzeit droht dies mehreren Hunderten von ihnen. Die Spekulation liegt nahe, inwiefern in Deutschland lebende Afghanen jetzt den Wechsel zum Christentum nutzen könnten, um sich ein mögliches Bleiberecht in Deutschland zu sichern.

Martin Gerner

© Qantara.de 2006

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