Rechtsverständnis auf dem Prüfstand
Abdul Rahman kann aufatmen: Der Afghane, der wegen seines Übertritts zum Christentum mit der Todesstrafe bedroht und in den Mittelpunkt einer internationalen Kontroverse über das afghanische Rechtssystem geraten war, ist frei und dürfte wohl Asyl im Ausland bekommen. Peter Philipp kommentiert
Für den bedrängten Afghanen bedeutet die Freilassung die rettende Lösung, nicht aber für den juristischen und politischen Konflikt. Denn grundsätzlich hat sich daran nichts geändert: Die erzkonservative afghanische Justiz besteht weiterhin darauf, dass das islamische Recht, die Schari'a, zur Anwendung kommen müsse und wichtiger sei als weltliche Gesetze.
Im Widerspruch zur Verfassung
Die Juristen lassen sich auch nicht beeindrucken durch den Hinweis, dass die afghanische Verfassung ausdrücklich die Achtung der Menschenrechte fordert. Denn an anderer Stelle gebietet dieselbe Verfassung, dass Gesetze konform gehen müssten mit der Schari'a.
Nur oberflächlich betrachtet befindet sich Afghanistan damit in derselben Gruppe von Staaten wie zum Beispiel Iran und Saudi-Arabien, in denen das religiöse Gesetz über jedes weltliche Gesetz gestellt wird.
Der Unterschied besteht aber darin, dass in den anderen Staaten solche Zustände seit Jahrzehnten herrschen und das Ausland nur in mühsamer Überzeugungsarbeit versuchen kann, auf eine Liberalisierung hinzuwirken.
In Afghanistan aber sollte mit dem Sturz des radikalen Taliban-Regimes ein Neubeginn gemacht werden. Der Weg in Demokratie, Freiheit und Rechtstaatlichkeit sollte eingeschlagen werden. Und es war dieses Programm, das die Welt dazu bewegte, Afghanistan in großem Umfang zu unterstützen – mit Geld, menschlicher Hilfe und auch mit Truppen.
Solche Hilfe schien mit der Anklageerhebung gegen den Konvertiten mit einem Schlag in Frage gestellt: Wie sollte sich diese mit Rechtstaatlichkeit vereinbaren?
Auferstehung des "alten Geistes"
Solche Fragen wurden nicht aufgeworfen aus westlicher – und erst recht nicht aus christlicher – Überheblichkeit, sondern schlicht und einfach, weil man plötzlich erkannte, dass die so gut gemeinte Hilfe für Afghanistan nicht ihren Zweck erfüllt. Und dass unter dem Deckmantel internationaler Solidarität mit Kabul dort der alte Geist wieder Urständ feierte.
Die erste Reaktion afghanischer Politiker machte das Dilemma mehr als deutlich: Man verbat sich westliche Appelle – von Merkel bis zum Papst – als Ausdruck fremder Einmischung und Erpressung. Und nur langsam begann man einzusehen, dass wirkliche Sorge um den Angeklagten und – mehr noch – um die Zukunft des "Afghanistan-Projektes" dahinter stand.
Dieses "Projekt" ist ambitioniert: Es will einen Staat, der jahrelang unter den Taliban eigentlich keiner mehr war, aus fast mittelalterlichen Zuständen in die Neuzeit katapultieren.
Und das, ohne ihm seinen besonderen kulturellen und auch religiösen Charakter abzusprechen. Ohne Kompromisse ist das nicht zu erzielen. Und zwar auf beiden Seiten. So bleibt auch nach dem Fall Rahman die Forderung nach weitgehender Trennung von Staat und Religion bestehen.
Peter Philipp
© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2006
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