Hart und schonungslos
Çiğdem Akyols Debütroman „Geliebte Mutter - Canım Annem“ beginnt und endet mit dem Tod des Vaters der Protagonistin. Und auf den kaum 200 Seiten dazwischen findet nicht nur das Leben der Eltern Aynur und Alvin statt, sondern auch das der Kinder Meryem und Ada: Die Leben zweier Generationen zwischen Bosporus und Rhein, zwischen Fabrikarbeit und Universität, zwischen Ich-Suche und Heimatverlust, zwischen häuslicher Gewalt und der Suche nach einem Ankommen – und so vieles mehr, das den knappen Rahmen einer Rezension sprengen würde.
Es gibt Autoren, die für so eine Geschichte tausend Seiten brauchen und in der Breite doch weniger erzählen als die Journalistin Akyol in ihrem ersten fiktionalen und zugleich tief in Lebensrealitäten verwurzelten Prosawerk. Schon formal wählt die Autorin, die zuvor Sachbücher zu Türkei-Themen publizierte, einen Ansatz, der die Zerrissenheit ihrer Figuren im Aufbau der Erzählung spiegelt: Anstatt chronologisch vorzugehen, wechseln die Perspektiven der Eltern und der Kinder, vorwiegend von Tochter und Mutter, ebenso wie die Zeitebenen und die Erzählperspektive.
Teile von Meryems Geschichte werden in der dritten Person, andere in der ersten Person erzählt, wobei diese wie Zwiegespräche mit der Mutter um den Kern all dessen kreisen, worum es eigentlich geht: das schwierige Verhältnis zu den Eltern, zur Elterngeneration, das zwischen Angst, Entsetzen und Ablehnung auf der einen Seite sowie Liebe und Anerkennung auf der anderen schwankt.
Es gibt da, relativ spät im Buch, eine Dialogszene zwischen den Geschwistern Meryem und Ada, die einander nach langer Zeit wiedersehen. Beide sind längst in ihren Dreißigern und fest in einem wohlhabend-akademischen Berufsleben angekommen, also an einem Ort, der ihren als Gastarbeiter nach Deutschland gekommenen Eltern verschlossen geblieben ist.
Während Ada lange zuvor aus der Familie geflüchtet ist, weil ihn Furcht vor dem Vater, Ablehnung der Mutter und ständige Panikattacken zermürbt haben, ist Meryem zurückgekehrt, um ihren todkranken Vater auf den letzten Metern zu begleiten und mit der Mutter ihren Frieden zu machen. Ihr Blick auf auf Aynur hat sich nachhaltig verändert. Doch Ada will davon nichts hören, hält seine Schwester für naiv.
Es sind diese sehr ehrlichen, sehr echten, sehr menschlichen Momente, die dem Roman seine Kraft verleihen: Nichts ist eindeutig im Leben dieser Familie, dieser Personen, sie sind komplex, schwankend, unsicher. Man folgt ihnen auf jedem Schritt ihres Weges und da liegt die große Kunst des Erzählens: Mit präzisen Pinselstrichen sehr genaue Bilder entstehen zu lassen, die einen beim Lesen emotional erwischen und durchrütteln, nicht zuletzt, weil man immer wieder das Gefühl hat, bei eigenen Schwächen ertappt zu werden. Denn wo im Leben ist man schwächer als im Verhältnis zu den eigenen Eltern, obwohl man doch gerade dort stark sein möchte?
Eine alevitische Familie in Herne
Aynur und Alvin wachsen in der Türkei völlig gegensätzlich auf: sie urban und modern, er traditionell und ländlich. Sie finden einander nicht, sondern werden von Aynurs Bruder zusammengeführt. Aynur willigt in die Ehe mit Alvin ein, obwohl sie weiß, dass sie damit einen Weg einschlägt, der ihr zuwider ist. Der Druck der Familie ist zu groß, also zieht sie mit ihrem ungelenken und ungebildeten Mann nach Deutschland, nach Herne, in eine winzige Wohnung, in der auch Alvins Bruder und Vater leben. Alle drei arbeiten sich krumm in Kohleschächten und Fabriken, für Hungerlöhne, und niemand dankt es ihnen.
Das Paar bekommt Kinder, zieht endlich in eine eigene Wohnung, aber besser wird es kaum. Alvin wird arbeitslos, verspielt alles Geld, verschuldet sich und lässt den angestauten Frust an der Familie aus. Während Aynur äußerlich längst aufgegeben hat, kämpft sie innerlich weiter, mit sich, der Situation, dem ungeliebten und allzu oft gewalttätigen Ehemann, den Kindern, die sie spätestens als sie in die Pubertät kommen, überhaupt nicht mehr versteht. Zwischendurch fragt sie sich, was dieses Wort „Gastarbeiter“ überhaupt bedeuten soll und warum sie eine gänzlich andere Vorstellung vom Umgang mit Gästen hat als die Deutschen.
Akyol knüpft an lange Tradition an
Die Kindheit von Ada und Meryem ist von diesem Elternhaus geprägt. Oft finden sie nur beieinander Halt, während sie schwanken zwischen der Angst vor und der Zuneigung zu ihren Eltern. Bin eine jugendlichen Abnabelung einsetzt, die längst nicht nur durch die Pubertät, sondern auch durch den unbedingten Drang begründet ist, aus den Verhältnissen zu fliehen. Gerade dann, wenn sie sich wieder einmal aneinander klammern, während der Vater in einem Wutausbruch über die Mutter herfällt und diese die Demütigung ihrerseits an die Kinder weitergibt.
Während Ada sich abschottet, flüchtet Meryem in Selbstverletzung und Bindungslosigkeit. Erst spät, als Journalistin in der Türkei und vor dem Hintergrund neuer Perspektiven und Eindrücke sowie des Todes des Vaters, lernt sie, ihrer Mutter zu verzeihen und zu sehen, wie hart das Leben der Eltern letztlich war. Ja, wie sie diese Härten auch um das Wohl der Kinder willen durchstanden.
"Unsere Kämpfe sind nicht nur individuelle Probleme"
Die in Karlsruhe geborene Kolumnistin und Redakteurin Fatma Aydemir gehört zu den schillerndsten Stimmen der jungen deutschen Literatur. In ihrem neuen Roman "Dschinns“ erzählt sie eine migrantische Familiengeschichte aus sechs verschiedenen Perspektiven. Interview von Schayan Riaz für Qantara.de.
Es ist ein oft harter und schonungsloser Blick, den Çiğdem Akyol auf dieses alevitische Paar und seine Kinder wirft, auf die harten Lebensumstände in traditionellen muslimischen Familien genauso wie auf die gnadenlose Ausnutzung und Ausgrenzung der Gastarbeiter. Die Kinder leiden unter Armut ebenso wie unter häuslicher Gewalt und Rassismus. Auch dann noch, wenn sie den Absprung aus dem Milieu längst geschafft haben. Vor allem gelingt es Akyol, diese Figuren in all ihrer Widersprüchlichkeit zu zeichnen, ohne je über sie zu urteilen. Das überlässt sie dem Leser, dem sie immer dann, wenn er gerade meint, sich ein Bild gemacht zu haben, einen neuen Blickwinkel präsentiert.
Selten ist die Geschichte der Gastarbeitergeneration so eindrücklich literarisch dargestellt worden wie hier. Es sagt etwas, wenn erst die aktuelle Generation der Kinder, mehr als sechzig Jahre nach dem Anwerbeabkommen, es schafft, diesem Thema größere Sichtbarkeit zu verschaffen. In den letzten Jahren gelingt das immer mal wieder. Man denke an Dinçer Güçyeters Debütroman „Unser Deutschlandmärchen“ (Mikrotext Verlag 2022), der ebenfalls eine tiefe Verneigung vor dem Leben der Mutter ist, oder an Fatma Aydemirs „Dschinns“ (Hanser Verlag 2022).
Allerdings ist es ist nicht so, als wären sie die ersten überhaupt, nur erschienen solche Werke früher oft in Kleinverlagen. Man denke an Aras Ören, der den Gastarbeitern in Berlin schon vor fünfzig Jahren ein Denkmal gesetzt hat. Oder an Fakir Baykurts Duisburg-Trilogie, die auf Türkisch entstand und erst seit wenigen Jahren vollständig in deutscher Übersetzung vorliegt, in einem Kleinverlag, der Duisburger Dialog Edition. Auch schon dieses Romanwerk hätte deutlich größere Beachtung verdient.
Çiğdem Akyol
„Geliebte Mutter - Canım Annem“
Steidl Verlag 2024
240 Seiten, 24 Euro
Eine Leseprobe finden Sie hier.
© Qantara.de 2024