Ein Fünkchen Realität in der literarischen Dystopie
Aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzte Literatur behandelt meist zeitgeschichtliche Themen und ist gesellschaftskritisch. Die Verlage wählen zu übersetzende Werke vorwiegend entlang der deutschen medialen Debatten aus. Die oft als rein unterhaltend geltende Genreliteratur hat es dagegen schwer, einmal abgesehen vom Kriminalroman.
Übersetzungen aus Genres wie Fantasy, Horror oder Science-Fiction finden sich so gut wie gar nicht. Ein Problem, das nicht nur die türkische Literatur betrifft, sondern nahezu alle jenseits des Westens. Gerne wird aus dem Englischen oder anderen europäischen Sprachen übersetzt, so gut wie nie aber aus dem Türkischen, Persischen oder Arabischen.
Wie viel der deutschen Bücherwelt damit verborgen bleibt, beweist der von Ünver Alibey edierte und von Inci Asena German ins Deutsche übertragene Sammelband „Über den Wolken und andere Geschichten – Science-Fiction aus der Türkei“, der im Oktober im Berliner Memoranda Verlag erschienen ist. Das Buch ist nach einer Sammlung südkoreanischer Science-Fiction bereits das zweite Projekt des Verlags, das den Blick in (bei uns) literarisch wenig erkundete Gefilde wirft.
Und es ist eine kleine Sensation: Der schmale Band von knapp 180 Seiten und acht Geschichten ist der allererste Band türkischer Science-Fiction, der in Deutschland publiziert wird. Herausgeber Alibey hat sich auf Texte von Autorinnen und Autoren konzentriert, die ausschließlich in diesem Genre schreiben. Er will einen möglichst guten Eindruck davon vermitteln, was die türkische Science-Fiction-Szene bewegt.
Unter den Autor*innen sind mehrere, die in den letzten Jahren ausgezeichnet wurden, etwa Semin Güven, die 2021 den Science-Fiction-Wettbewerb der Türkischen Informatikgesellschaft gewann, oder Tolga Aydin, dessen Story 2018 den Preis des Future Science Team erhielt. Leider erfährt man im Sammelband selbst nichts über die Autor*innen, da der Verlag auf Kurzbiografien verzichtet.
Im Eröffnungstext „Der Zwischenfall in der Aufwacheinheit“ zeichnet Semin Güven das Bild einer Zukunft, wie wir sie aus Hollywood kennen: Eine hochtechnisierte Menschheit lebt auf Plattformen oberhalb des nicht mehr bewohnbaren Planeten in einer entpolitisierten Umgebung und frönt ihrem Hedonismus. Die Erde wurde durch mehrere Atomkriege verwüstet. Ziele oder Ambitionen hat man nicht mehr, stattdessen lässt man sich unterhalten und vertreibt sich die Zeit. Vor Urzeiten, als die Erde zugrunde ging, wurden Menschen eingefroren, um sie in die Zukunft hinüberzuretten. Immer mal wieder werden solche Menschen aufgetaut und erhalten eine Einführung in ihre neue Realität. Doch daran, dass manchem der Aufgetauten das vielleicht gar nicht gefallen könnte, hat niemand gedacht. Und so nimmt das Unheil seinen Lauf.
Der Schein einer besseren Zukunft
Die titelgebende Geschichte „Über den Wolken“ von Funda Özlem Şeran ist mit rund vierzig Seiten die Längste und eine der stärksten im Buch. In einem zukünftigen Istanbul, das angesichts fehlender Digitalisierung eine gewisse Siebziger-Jahre-Atmosphäre verströmt, stürzt sich ein Zahnarzt nach furchtbaren Alpträumen von der Bosporusbrücke in den Tod. Was seit den frühen 2000er Jahren keine Seltenheit ist, wird in dieser Zukunft ein Skandal, denn eigentlich existiert in dieser Gesellschaftsordnung weder Gewalt noch Unzufriedenheit. Folglich tötet sich auch niemand selbst – oder kommt auch nur auf die Idee.
Ein Polizist untersucht den rätselhaften Fall und stößt auf eine ganze Reihe seltsamer Todesfälle, die von seinen Kolleg*innen als Unfälle abgehakt worden sind, bei genauerem Hinsehen aber Gemeinsamkeiten aufweisen. Dann beginnt er selbst unter unerklärlichen Alpträumen zu leiden und ihm schwant, dass die angeblich heile Welt nichts ist als ein riesiges Lügengebilde.
Das haben diese zwei Geschichten mit einigen weiteren des Bandes gemeinsam: Sie spielen in einer vermeintlich besseren Zukunft, die Übel früherer Zeiten haben die Menschen vermeintlich hinter sich gelassen. Doch vieles erweist sich als bloße Fassade, oft gelenkt von repressiven Systemen. Manch einen Leser erinnert das an die heutige Türkei, wo die von der Politik aufgebaute und mit repressiven Mitteln durchgesetzte Fassade kaum etwas mit der Lebensrealität der Menschen zu tun hat. Der dystopische Verweis auf die Gegenwart ist dabei kein typisch türkisches Element des Genres, sondern ein universales.
Der beeindruckendste und zugleich verstörendste Text ist Selin Arapkirlis Kurzgeschichte „Bitte nicht stören“. Der Text ist eindringlich in der Du-Form erzählt und nimmt die Perspektive einer jungen Frau ein, die auf brutale Weise hinter die Kulissen ihrer ebenfalls nur scheinbar heilen Welt blicken muss: Als sie gerade zwölf Jahre alt ist, bringt man sie auf eine Insel, dort soll es ihr gut gehen und jeder Wunsch erfüllt werden. Sie wird stattdessen 13 Jahre lang in ein Zimmer gesperrt, wo vorgebliche Saubermänner aus der Politik sie hemmungslos als Sexspielzeug missbrauchen.
Die Bezüge zu vergleichbaren Skandalen in islamisch geführten Kinderheimen in der heutigen Türkei scheinen offensichtlich, doch auch ohne diesen Hintergrund entfaltet die Story eine unglaubliche literarische wie emotionale Wucht. Zum Schluss dreht sich die Handlung und wird zur gut durchdachten Rachegeschichte, die symbolisch zum Gegenschlag ausholt, stellvertretend für alle Kinder und Frauen, denen Ähnliches widerfahren ist.
Typisch türkische Science Fiction?
Abgesehen von Namen und Setting entsprechen die Geschichten oft keiner explizit türkischen Realität oder Literatur. Ob das gut oder problematisch ist, ob repräsentativ oder der Auswahl geschuldet, soll hier nicht bewertet werden. Sie sind lesenswert, nur darauf kommt es letztlich an.
Am Ende des Buches beleuchtet Özgür Tacer die Geschichte der türkischen Science-Fiction, vom Osmanischen Reich bis heute. Er stellt fest, dass es das Genre – wie auch viele andere, den unvermeidlichen Krimi mal ausgenommen – schwer hat in der Türkei, und vielleicht sogar schwerer als im Rest der Welt. Als ersten türkischen Science-Fiction-Text macht er Ziya Pasas Geschichte „Der Traum“ aus, die 1869 in der Zeitung Hürriyet erschien.
Bis vor wenigen Jahren, so Tacer, wurde das Genre insgesamt kaum beachtet, Übersetzungen von Genrestücken aus anderen Ländern waren oft schlampig. Die Kombination brachte der Science-Fiction den Ruf von Schundliteratur ein, die höchstens als Unterhaltung für Kinder taugt. Auch das ein Problem, das in Deutschland bekannt ist. Erst mit Hilfe des Internets entstand eine neue Genre-Szene. Angesichts der starken Texte im vorliegenden Buch, darf sich das deutschsprachige Publikum hoffentlich auf weitere Übersetzungen freuen.
Über den Wolken und andere Geschichten - Science-Fiction aus der Türkei
Herausgegeben von Ünver Alibey; aus dem Türkischen übersetzt von İnci Asena German
Memoranda Verlag 2024
184 Seiten, 23 Euro
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