Kaum Chancen auf einen fairen Prozess
Mehr als ein Jahr nach den Protesten in der nordmarokkanischen Stadt El-Hoceima gehen die dortigen Behörden weiter gegen die Unterstützer der Bewegung "Hirak El-Shaabi" vor. Ausgangspunkt der Protestbewegung war der grausame Tod des Fischhändlers Moshin Fikri. Der Mann wurde bei dem Versuch zu Tode gequetscht, seine konfiszierten Waren aus einem Müllwagen zu retten.
Am 8. Februar verurteilte ein Gericht den Menschenrechtsanwalt Abdesaddeq El Bouchtaoui zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten, nachdem das Gericht ihn der "Beleidigung von Amtsträgern" und des "Mitwirkens an der Organisation einer nicht genehmigten und verbotenen Demonstration" für schuldig befunden hatte.
El Bouchtaoui ist einer der Anwälte, die Hirak-Aktivisten und -Demonstranten vertreten, darunter auch die Familie von Emad El Attabi, der im Juli 2017 bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei ums Leben kam. Bei diesen Zusammenstößen waren insgesamt über 80 Verletzte zu beklagen.
Im Visier der Justiz
El Bouchtaoui geriet ins Visier der Justiz, nachdem er im Juli letzten Jahres auf Facebook Menschenrechtsverletzungen öffentlich machte und die staatlichen Sicherheitskräfte kritisierte. Noch im selben Monat kündigte er auf Facebook seine Teilnahme an lokalen Protesten an.
In der darauffolgenden Woche, am 15. Februar, wurde die führende Hirak-Aktivistin Nawal Benaissa nach identischer Anklage wegen Anstiftung zu Protesten zu zehn Monaten Haft verurteilt. Als Reaktion auf das Urteil bekräftige Benaissa auf ihrer Facebook-Seite ihre anhaltende Unterstützung für die Proteste im Rif. "Ich bin stolz, an den Protesten in der Region teilzunehmen, und ich verurteile die Inhaftierung von Hirak-Aktivisten. Ich fordere ihre sofortige Freilassung", schrieb sie.
Die marokkanischen Sicherheitskräfte haben seit Mai 2017 Hunderte von Demonstranten wegen ihrer Teilnahme an den weitgehend friedlichen Demonstrationen festgesetzt. Gegenwärtig sind mindestens 410 Personen in Haft. Viele von ihnen wurden zu Haftstrafen von bis zu 20 Jahren verurteilt, darunter mehrere Minderjährige. Beobachter gehen davon aus, dass einige bereits für die bloße Unterstützung von Hirak in sozialen Netzwerken, wie Facebook, ins Gefängnis mussten.
Prozess gegen Zefzafi geht weiter
Unter den Festgenommenen befindet sich Nasser Zefzafi. Der führende Kopf der Hirak-Bewegung befindet sich seit zehn Monaten in Casablanca in Einzelhaft. Der Aktivist hatte dem Imam in einer Freitagspredigt widersprochen, als dieser den Protestierenden vorwarf, die Nation spalten zu wollen.
Zefzafi steht zusammen mit 53 anderen Mitgliedern der Bewegung vor Gericht, unter anderem wegen unerlaubter Proteste, Aufruhr, "Verschwörung zur Aushöhlung der inneren Sicherheit", Untergrabung der "Bürgertreue gegenüber den Institutionen des marokkanischen Staates", "Aufstachelung gegen die territoriale Einheit des Königreichs" und "Beleidigung" von Beamten und Institutionen.
Zefzafi und die Mitangeklagten verweisen darauf, dass die Forderungen der Hirak-Bewegung gesellschaftspolitischer und wirtschaftlicher Natur seien. Ihrer Auffassung nach werden sie zu Unrecht wegen schwerer politischer Straftaten angeklagt, die im Falle eines Schuldspruchs zu lebenslangen Haftstrafen führen könnten.
"Sie wollen uns wegen Separatismus verurteilen, tatsächlich verfolgen sie uns aber, weil wir unsere Meinung sagen", erklärte Zefzafi in einer Anhörung vor einem Berufungsgericht am 23. Februar, wovon er später wegen seiner Äußerungen ausgeschlossen wurde.
Die Verteidiger von Zefzafi und anderer Aktivisten wiesen zuvor die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft zurück. Sie befürchten, dass die falschen Anschuldigungen ein faires Verfahren unmöglich machen. Zefzafi wirft dem Direktor des Oukacha-Gefängnisses vor, seine Gerichtsnotizen entwendet zu haben, die er für eine jüngste Anhörung verfasst hatte.
Unterdessen beklagen Zefzafi und andere Dissidenten ihre zunehmend schlechte gesundheitliche Verfassung. Die Häftlinge verbringen bis zu 22 Stunden pro Tag in Einzelhaft und werden nur unzureichend verpflegt. Laut Berichten soll dies dazu dienen, die Gruppe zu zermürben und ihren Widerstandswillen zu brechen.
Der politische Analyst Mohamed Chtatou erachtet den gesamten Prozess von Anfang an als gravierenden Fehler der Staatsmacht. "[Der Prozess] wirft international ein schlechtes Licht auf die Regierung und das Land und wird von renommierten Menschenrechtsorganisationen angeprangert. Er erweist sich zudem als langwierig und unfair, zumal die marokkanische Justiz bekanntermaßen nicht unabhängig ist."
Menschenrechtsgruppen kritisieren Kriminalisierung
Derweil prangern internationale Menschenrechtsorganisationen das harte Vorgehen der Regierung gegen die Anhänger der Protestbewegung und deren ungerechtfertigte Kriminalisierung an.
So bezeichnet Amnesty International die gegen Zefzafi und andere erhobenen Anschuldigungen als unvereinbar mit den Verpflichtungen Marokkos zur Einhaltung der Menschenrechte. Die Anschuldigungen "kriminalisieren die friedliche Ausübung des Rechts auf Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit" im Land, so die Organisation.
Der am 22. Februar veröffentlichte Jahresbericht der Organisation zur Lage der Menschenrechte wirft den marokkanischen Behörden Massenverhaftungen, unangemessene Gewalt und Nötigung sowie Fälle von Missbrauch und Folter vor.
"Wir sehen darin eine Verschlechterung der Rechtslage in Marokko nach der politischen Übergangsphase", erklärte Mohamed Sektaoui, marokkanischer Generalsekretär von Amnesty International, gegenüber der "Huffington Post Maghreb" in Hinblick auf die Verfassungsreformen des Landes von 2011.
Sowohl Amnesty International als auch Human Rights Watch fordern die bedingungslose Freilassung von Zefzafi sowie der übrigen Hirak-Demonstranten und des Journalisten Hamid El Mahdaoui, der wegen "Verletzung seiner Pflicht, den Behörden einen Versuch zur Untergrabung der inneren Sicherheit des Staates zu melden", angeklagt ist.
El Mahdaoui, ein bekannter Journalist und Regierungskritiker, gehört zu insgesamt sieben Medienleuten, die wegen ihrer Berichterstattung über Hirak verhaftet und angeklagt wurden. Die marokkanischen Behörden hinderten zudem Pressevertreter daran, nach El-Hoceima in der Rif-Region zu reisen. Darunter befanden sich auch mehrere ausländische Journalisten, die schließlich ausgewiesen wurden.
Unterdessen kündigte die Regierung an, in El-Hoceima ein Entwicklungsprojekt ins Leben zu rufen, das einige der von "Hirak El-Shaabi" angeprangerten Missstände beseitigen soll. Führende Mitglieder der Regierung bezeichneten es zudem als Fehler, die Demonstranten des Separatismus zu beschuldigen. Die Regierung ließ bislang jedoch nicht erkennen, dass sie die Forderungen nach Freilassung von inhaftierten Hirak-Demonstranten in Erwägung ziehen wird.
"Dieser Prozess marginalisiert [die Rif-Region] immer weiter und sendet die falschen Signale an die Bürger in den Randgebieten Marokkos", meint der politische Analyst Chtatou.
Matthew Greene
© Qantara.de 2018
Aus dem Englischen von Peter Lammers