Der IS in den Köpfen

Der "Islamische Staat" ist keinesfalls aus dem Nichts heraus entstanden. Er entspringt vielmehr einem Diskurs, der die arabischen Gesellschaften bereits seit einem halben Jahrhundert prägt und lähmt, schreibt der renommierte arabische Publizist Khaled Hroub.

Essay von Khaled Hroub

Ein Gespenst geht um in den arabischen Gesellschaften – der Fanatismus. Dieses Gespenst hat viele Gesichter, aber sie alle haben eines gemeinsam: die gedankliche Nähe zum "Islamischen Staat". Wir können in diesem Zusammenhang von einer latenten "Daeshisierung" arabischer Diskurse sprechen. ("Daesh" ist eine auf Arabisch gängige Bezeichnung für die Terrormiliz IS). Inzwischen aber erheben sich die Stimmen, die der schleichenden "Daeshisierung" der Gesellschaft die Stirn bieten wollen.

Der "Islamische Staat" ist nicht aus dem Nichts heraus entstanden. Sein Gedankengut entspringt vielmehr einer Identitätspolitik, die die gesellschaftlichen, religiösen und politischen Definitionen im öffentlichen Diskurs der arabischen Länder seit einem halben Jahrhundert prägt.

Konservative religiöse Tendenzen eroberten die Moscheen, die Schulen und die Medien. Sie entschieden über Gut und Böse. Sie legten die Maßstäbe und Hierarchien fest, an denen die gesellschaftliche Stellung einer Person und die ihr gebührende Achtung bemessen wurden. All das vollzog sich nicht losgelöst von den geopolitischen Entwicklungen in der Region: Ohne gescheiterte Staatlichkeit und ausländische Einmischungen wäre dieses Szenario nahezu undenkbar gewesen.

Konfessionalisierung des öffentlichen Raumes

Die Wurzeln der heutigen latenten "Daeshisierung" lassen sich etwa 100 Jahre zurückverfolgen und auf die gescheiterten Reformversuche von Dschamal ad-Din al-Afghani, Muhammad Abduh und Abd al-Rahman al-Kawakibi im 19. Jahrhundert zurückführen.

Der ägyptische Reformer Muhammad Abduh, 1849-1905; Quelle: Wikipedia
Wegbereiter der islamischen Reformbewegung: Mit ihrer Zeitschrift al-Manar verbreiteten die beiden Hauptprotagonisten der islamischen Reformbewegung Muhammad Abduh (1849-1905) und Raschid Rida (1865-1935) das ideale Medium ihre reformislamischen Vorstellungen fast überall in der muslimischen Welt. Ihrer Auffassung zufolge sollte nicht die erste muslimische Gemeinschaft in der Gegenwart kopiert werden, sondern vielmehr als Inspiration zur Überwindung von Erstarrung und Nachahmung der islamischen Lehre dienen.

Ihr im Kern liberaler Reform-Ansatz wurde allmählich durch die reaktionären Ideen von Hassan al-Banna und Sayyid Qutb sowie salafistische Ideologien ersetzt. Im Untergrund und jenseits des öffentlichen Diskurses in den arabischen Ländern kristallisierte sich der radikale Gedanke heraus, der im kollektiven konservativ-religiösen Selbstverständnis der Gesellschaft günstige Wachstumsbedingungen vorfand.

Langsam entwickelte sich die Religion zum Schlachtfeld, auf dem politische Regime und islamistische Widerstandsgruppen in den meisten Ländern ihre Kulturkämpfe und Kriege austrugen. Die Konfessionalisierung als Mittel der Herrschaftslegitimation sowie die der Medien und der Lehrpläne im Bildungssystem legt hiervon ein deutliches Zeugnis ab.

Der religiöse Diskurs in all seinen Ausformungen überflutete den öffentlichen Raum und wurde zum vorbildhaften Maßstab der kollektiven Lebensführung. Nach und nach gewannen religiöse Vorstellungen auch die Autorität über die Gesetze.

Praktisch bedeutete die Konfessionalisierung des öffentlichen Diskurses, dass das Individuum auf zwei Ebenen existierte: Auf der einen wurde der Mensch an seiner Frömmigkeit gemessen. Auf der anderen, der gesetzlichen Ebene, wurde der Mensch als Bürger im Sinne der Verfassung definiert. Aber schon bald gewann die religiöse Ebene die Oberhand und plötzlich wurde der "fromme Bürger" zum Vorbild. Er galt plötzlich als "besser" als der "nichtreligiöse".Primat des Religiösen

Als persönliche Meinung wäre eine solche Hierarchisierung noch vertretbar. Aber das Primat des Religiösen über das Bürgerliche setzte sich in den Gesellschaften schnell durch und fand schon bald auch seinen Eingang in die Gesetzgebung. Hier kam der Widerspruch zwischen den beiden Definitionen und Lebensanschauungen ans Licht – die religiöse Vision vom guten frommen Menschen kann nicht mit einem modernen Konzept vom Bürgertum, in dem alle in ihren Rechten und Pflichten vor dem Gesetz gleich sind, vereinbart werden.

Iranische Muslimas beim Gebet; Foto:
Religiös erstarrte Gesellschaft: "Auf der einen wurde der Mensch an seiner Frömmigkeit gemessen. Auf der anderen, der gesetzlichen Ebene, wurde der Mensch als Bürger im Sinne der Verfassung definiert. Aber schon bald gewann die religiöse Ebene die Oberhand und plötzlich wurde der 'fromme Bürger' zum Vorbild. Er galt plötzlich als 'besser' als der 'nichtreligiöse'", schreibt Khaled Hroub.

Die Grundannahme jeder religiösen Denkrichtung in allen Gesellschaften der Welt besagt, dass Frömmigkeit moralisches Handeln gewährleistet und so das Gute fördert und das Böse bekämpft. Diese Annahme lässt sich aber weder theoretisch noch empirisch beweisen.

Beispiele dafür gibt es genug: Obwohl arabische und islamische Länder neben Subsahara-Afrika zu den religiösesten Gegenden der Welt gehören, führen Länder wie Afghanistan, Iran und Ägypten die weltweiten Listen in Hinblick auf sexuelle Belästigung von Frauen an. Die weniger religiösen Länder stehen in diesen Kategorien deutlich besser da. Eine Abhängigkeit zwischen Frömmigkeit und Moral lässt sich insofern, entgegen der Darstellungen religiöser Gruppen, offensichtlich nicht beobachten.

Diese Tatsachen sollten uns allen einen Denkanstoß geben. Trotz aller Propaganda islamistischer Gruppen und unterschwelliger Botschaften regierender Regime muss zwischen dem Wert als Muslim und dem Wert als Bürger unterschieden werden.

Die religiös-konservativen Eliten hegen große Zweifel gegenüber patriotischen Gesinnungen, der Professionalität und der Loyalität ihrer nichtreligiösen Bürger, denen sie jegliche positive Eigenschaften absprechen, da diese ja angeblich ein ausschließliches Merkmal frommer Menschen seien. Schlimmer noch: Das religiöse Lager behauptet gar, dass alle nicht-religiösen Menschen keine vollwertigen Bürger seien.

Grundsätzliche Gleichstellung aller Bürger

Nach wie vor besteht die größte Herausforderung der gesellschaftlichen Akteure in der prinzipiellen Gleichstellung aller Bürger. Das Prinzip der Gleichheit liegt dem modernen Rechtsstaat zugrunde, der nicht die Frömmigkeit der Bürger anerkennt, sondern ihr Wirken im Einklang mit der Verfassung – eine Verfassung, die ihnen Grundrechte zuspricht und Pflichten abverlangt.

Der demokratische Verfassungsstaat ist darauf angelegt, dem einzelnen Menschen ein Leben in Freiheit, Gleichheit und Würde zu sichern. Und es nutzt hier auch nichts, den ewig rückwärtsgewandten Einwand zu erheben, die Freiheit sei doch nicht absolut und ihr müssten auch Grenzen gesetzt werden. Zumindest sollte doch inzwischen bekannt sein, dass selbst in den liberalsten westlichen Gesellschaften die Freiheit nicht grenzenlos ist.

Khaled Hroub

© Qantara.de 2017

Aus dem Arabischen von Filip Kaźmierczak

Der Publizist und Medienwissenschaftler Khaled Hroub war Direktor des "Cambridge Arab Media Project" an der Universität Cambridge. Er zählt zu den wichtigsten Meinungsmachern im arabischen Raum. Er ist zudem Berater des "Oxford Research Group's (ORG) Middle East Programme".