"Wir brauchen eine neue internationale Wirtschaftsordnung"

Der G8-Gipfel in Heiligendamm ruft nicht nur deutsche Kritiker auf den Plan, auch in den arabischen Staaten wächst die Anzahl der G8-Gegner. Über ihre Forderungen sprach Ahmad Hissou mit Nahed Badawiya aus Syrien, dem Marokkaner Ibrahim Obaha und mit Lutz Rogler.

Die acht mächtigsten Industriestaaten verhandeln auf ihren jährlich stattfindenden Gipfeltreffen Probleme internationalen Ausmaßes. Das ruft nicht nur europäische Kritiker auf den Plan, auch in den arabischen Staaten wächst die Anzahl der G8-Gegner. Über ihre Forderungen sprach Ahmad Hissou mit Nahed Badawiya von der Gruppe der "Antiglobalisierungsaktivisten in Syrien", Ibrahim Obaha, Generalsekretär von "Attac-Marokko" und Lutz Rogler, Wissenschaftler am "Zentrum moderner Orient".

Globalisierungsgegner in Rostock; Foto: AP
Tausende Menschen protestieren in Rostock gegen die Politik der acht mächtigsten Wirtschaftsnationen

​​Frau Badawiya, Sie von der "Antiglobalisierungsaktivisten in Syrien" kritisieren unermüdlich die Gipfel der G8, so auch den jetzt in Deutschland stattfindenden. Was kritisieren an dieser Gruppe der G8-Staaten?

Nahed Badawiya: Unsere Kritik lautet, dass diese acht reichen Länder versuchen, besonders nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers, die Welt nach ihren eigenen Interessen neu zu gestalten. Der zweite Kritikpunkt ist, dass diese nicht institutionalisiert und keinem Gesetz unterworfen ist. Deshalb betrachten wir sie als außerhalb des Gesetzes der Vereinten Nationen stehend. Diese Gruppe trifft sich, ohne sich mit irgendjemandem zu beraten, selbst nicht mit den anderen Nationen. Und sie trifft schicksalhafte Entscheidungen auf Kosten der Dritten Welt.

Aber sie bezieht doch einige Staaten mit ein, wie etwas Nigeria, Indien, Brasilien und China. Manche sagen auch, dass diese Gruppe sehr flexibel ist und schnelle Entscheidungen trifft, ohne sich den bürokratischen Mechanismen unterwerfen zu müssen wie die Vereinten Nationen. Ist das nicht ein positiver Faktor?

Badawiya: Sie behaupten immer, dass sie nicht institutionalisiert werden wollen, um nicht in der Bürokratie zu versinken, aber unserer Meinung nach ist das eine Flucht vor dem Gesetz und den Verpflichtungen, die ihre Bevölkerungen und die Bevölkerungen der anderen Nationen ihnen auferlegen. Sie wollen ohne Kontrolle den Markt beherrschen. Es stimmt zwar, dass sie ihre Entscheidungen schneller treffen, weil sie sich nicht den bürokratischen Mechanismen beugen müssen, aber ihr eigentliches Ziel ist, sich den Verpflichtungen zu entziehen, weil es eine unbürokratische Einrichtung ist.

Herr Obaha, Sie haben sich der internationalen globalisierungskritischen Gruppe "Attac" angeschlossen. Die Probleme des schwarzen Kontinents sind wahrscheinlich die größte Herausforderung für den G8-Gipfel. Wie bewerten Sie als Marokkaner und Afrikaner diesen Gipfel.

Ibrahim Obaha: Das ist genau unser Problem als Marokkaner und Afrikaner, denn die G8-Staaten verkünden seit Jahren, sie wollten die Probleme des afrikanischen Kontinents lösen, doch in der Realität ist genau das Gegenteil der Fall, denn diese Staaten sind es doch, die die Probleme des schwarzen Kontinents verursacht haben.

Polizei setzt sich gegen Randalierer in Heiligendamm zur Wehr; Foto: AP
Nicht immer friedlich verlief der Protest gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm: die Polizei setzt sich gegen Steinewerfer zur Wehr

​​In welcher Beziehung?

Obaha: Die Verschuldung zum Beispiel, die die Entwicklung des schwarzen Kontinents verhindert. Afrika überweist jährlich Milliarden Dollar an die G8-Staaten, aber wenn diese Staaten ihren Gipfel abhalten, erklären sie danach, dass sie die Schulden mindern oder tilgen wollen. In Wahrheit aber verlängern sie die Rückzahlungszeiten für einen Teil der Schulden und verkomplizieren die Probleme Afrikas.

Dann sind da noch die Problem mit dem Klima sowie mit dem Freihandel. Wenn wir zum Beispiel die Handelsabkommen nehmen, die Frankreich mit Marokko oder die EU mit Marokko oder mit anderen afrikanischen Staaten oder die USA mit Marokko abgeschlossen haben, dann kann man feststellen, dass all diese Abkommen gegen die Interessen der Entwicklungsländer gerichtet sind. Sie zerstören das wirtschaftliche Gefüge, das diese Staaten aufgebaut haben. Dann kommen die G8-Staaten und behaupten, sie wollten die afrikanischen Staaten von der Armut befreien.

Was sich in den letzten Jahren verändert hat, ist, dass die G8-Staaten immer wieder von Armutsbekämpfung reden, aber dieser Diskurs dient in Wahrheit denselben alten Interessen dieser Staaten auf dem afrikanischen Kontinent.

Unsere eigentliche Kritik aber besteht darin, dass die G8-Staaten mittlerweile alles ohne die afrikanischen Staaten entscheiden.

Vielleicht rührt das von einem Gefühl der Verantwortung her, dass sie die Verursacher der Probleme dieses Kontinents sind, wie Sie vorhin sagten.

Obaha: Nein, es ist das Gefühl, dass sie die Welt nach ihren Interessen verwalten. Wenn wir zum Beispiel das Problem der Migration betrachten, dann sehen wir, dass diese Staaten tatsächlich unter einem Zustrom von Flüchtlingen an ihre Grenzen leiden. Aber welche Lösungsvorschläge haben sie? Es sind nur Teillösungen für einige geringfügige Probleme. Sie bestehen darauf, dass diese Flüchtlinge in ihren Ländern bleiben, und dafür bieten sie finanzielle Unterstützung an, die aber letzten Ende nur einen geringen Wert hat.

Bunt bemalte Globalisierungskritikerin; Foto: dpa
Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt: bunt bemalte Kritikerin des G8-Gipfels

​​Wenn wir über Entwicklungshilfe sprechen, stellen wir fest, dass diese Staaten sich noch nicht einmal an die Summe von 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts halten, wie es die Vereinten Nationen vorgeschlagen hatten.

Doktor Rogler, wie bewerten Sie diese Kritik. Schließlich gibt es auch Leute, die sagen, dass nicht alles, was beim Gipfel herauskommt, schlecht ist, genauso wenig wie die Globalisierung nicht nur Schattenseiten hat.

Lutz Rogler: Ich stimme meinen beiden Kollegen in vielen Punkten zu. Aber ich glaube, dass es in Deutschland noch einen anderen Blickwinkel auf den Gipfel gibt. Die G8-Gipfel sind nicht mehr nur noch Wirtschaftsgipfel, sondern es werden auch andere wichtige Probleme diskutiert, Probleme, die die ganze Welt betreffen.

Zum Beispiel die Klimaveränderung und die Umweltverschmutzung, das sind weltweite Probleme, und ich halte die Tatsache, dass diese auf dem Gipfel diskutiert werden, für sehr wichtig.

Gleichzeitig sehe ich, dass diese Gruppe nicht homogen ist, sondern dass es deutliche Widersprüche gibt zwischen den Standpunkten der Mitglieder. So zum Beispiel zwischen den USA und den europäischen Staaten, und besonders Deutschland. Der Gipfel bietet auch eine Chance, Kritik und Protest zum Ausdruck zu bringen, was wiederum zu einem zunehmenden Bewusstsein über die Probleme der Welt führt.

Manche sagen, dass diese Staaten die Umweltverschmutzung verursacht haben, deshalb sollten sie dieses Problem diskutieren und dafür Lösungen suchen, anstatt das Problem an andere Institutionen wie die Vereinten Nationen zu übertragen. Wie stehen Sie dazu?

Rogler: Ich persönlich glaube, dass es wichtig ist, dass die internationalen Institutionen wie die Vereinten Nationen eine grundlegende Rolle dabei spielen. Sie arbeiten demokratischer als die G8, die niemand damit beauftragt hat, Probleme internationalen Ausmaßes zu verhandeln. Aber da diese G8-Staaten die größten Verursacher der Umweltverschmutzung sind, ist es notwendig, dass sie diese Probleme diskutieren und eine Lösung suchen.

Zeltlager der Protestanten bei Heiligendamm; Foto: AP
Widerstand gegen G8: Zeltlager der Demonstranten

​​Frau Badawiya, was fordern die syrischen und arabischen Globalisierungskritiker vom G8-Gipfel?

Badawiya: Die Probleme der arabischen Länder sind die Probleme der Dritten Welt, wozu auch Syrien gehört. Unser grundlegendes Problem mit den G8-Staaten ist, dass in diesen Staaten das Kapital angelegt wird, das aus unseren Ländern abgezogen wird, und dass diese Staaten gleichzeitig mit der korrupten Mafia bei uns zusammenarbeiten.

Aber die G8 rufen doch auf zur Bekämpfung der Korruption!

Badawiya: Sie rufen dazu auf, aber sie arbeiten mit der Korruptionsmafia und den korrupten Regierungen zusammen. Das kann man in Afrika ganz deutlich sehen. Gleichzeitig aber nehmen sie in ihren Ländern alle Ressourcen auf, die aus unseren Ländern geraubt werden. Das Geld wird dort bei den Banken angelegt und kurbelt ihre Wirtschaft an.

Herr Obaha, wie vereinbaren Sie Ihre arabischen Forderungen und die Forderungen von Attac, die in der Hauptsache europäische sind?

Obaha: Erstens ist Attac keine europäische Gruppe, sondern sie erhebt Forderungen der Staaten der Dritten Welt. Außerdem sind "Attac Marokko" und selbst die Globalisierungsgegner in Syrien noch in eine andere Bewegung integriert, nämlich die internationale Bewegung, die einen Schuldenerlass für die Dritte Welt fordert.

Zweitens sind die Forderungen der Entwicklungsländer bekannt: die Beendigung der chronischen Probleme, unter denen sie seit Jahrhunderten leiden. Die grundlegende Forderung ist meiner Meinung nach die nach Demokratie. Unsere Staaten können ihre Probleme nicht überwinden, ohne dass unseren Staaten das Recht auf Selbstbestimmung gewährt wird. Dieses Recht schließt die politische, gesellschaftliche und die ökonomische Ebene mit ein.

Sicherheitszaun in Heiligendamm; Foto: AP
Eingesperrt oder ausgesperrt? Die Staatschefs der G8 tagen hinter einem Sicherheitszaun

​​Von dieser Warte aus bekämpfen wir die G8-Staaten, weil wir weder den herrschenden Diktaturen noch den so genannten westlichen Demokratien gestatten wollen, stellvertretend für unsere Bevölkerungen zu entscheiden.

Heute stellt sich doch in der arabischen Welt und auf dem afrikanischen Kontinent die Frage der Entwicklung: Stützt sie sich auf den Binnenmarkt, und wie sehen die Beziehungen zu den anderen Staaten aus? Wir fordern von den G8-Staaten eine Reduzierung der Schulden. Wir müssen eine radikale Lösung für unsere Probleme finden, und das geht nur durch die Aussetzung aller Abkommen, die die G8 mit unseren Staaten unterzeichnet haben, denn es sind kolonialistische Abkommen.

Selbst die "Euromediterrane Partnerschaft"?

Obaha: Ja, selbst die, denn sie nützt nur Europa. Und das sind nicht meine Worte, sondern die der europäischen Experten, die sagen, dass diese Partnerschaft mit dieser Art von Abkommen zur Zerstörung des ökonomischen Gefüges der Staaten auf der Südseite des Mittelmeers führt. In Marokko zum Beispiel werden jährlich Tausende Arbeiter aufgrund dieser Partnerschaft mit Europa entlassen.

Es werden immer mehr Stimmen in Afrika laut, die sagen, dass die Verantwortung für die arme Welt nicht nur auf den Schultern der Industriestaaten liegt, sondern ebenso auf denen der intellektuellen Eliten. Sehen Sie das auch so, Herr Rogler?

Rogler: Ja, denn der Intellektuelle hat die Aufgabe, ein Bewusstsein für die Probleme der Welt zu schaffen. Ein Bewusstsein für die enge Verbindung der Probleme der gesamten Menschheit, und dazu gehört auch die Dritte Welt.

Aber ich glaube andererseits, dass die Intellektuellen in der reichen Welt sich dieses Problems bewusst geworden sind und jetzt eine aktive Rolle spielen. Das sehen wir in Deutschland, wo die Zeitungen täglich Beilagen zum G8-Gipfel und zu den Gefahren der Globalisierung veröffentlichen.

Der erste Gast des G8-Gipfels: Präsident George W. Bush mit Gattin auf dem Flughafen in Rostock; Foto: AP
Der erste Gast des G8-Gipfels: Präsident George W. Bush mit Gattin auf dem Flughafen in Rostock

​​Ich habe gelesen, dass die deutsche Kanzlerin gesagt hat, dass ihre Regierung die finanzielle Unterstützung für die armen Länder im nächsten Jahr um 750 Millionen Euro erhöhen wird. Das betrachte ich als einen Erfolg, der durch den Druck der öffentlichen Meinung auf die Politiker und die europäischen Regierungen zustande kam.

Glauben Sie denn, dass diese Erhöhung der Finanzmittel eine Lösung für die armen Staaten darstellt?

Rogler: Natürlich nicht. Es ist eine Lösung für einige dringende Probleme. Ich glaube, dass diese Erhöhung nicht ausreicht, um die strukturellen Probleme der Weltwirtschaft zu lösen. Es muss eine neue internationale Wirtschaftsordnung geschaffen werden.

Frau Badawiya, einige Mitglieder von "Attac" haben vorgeschlagen, einen internationalen Marshallplan für die Entwicklungsländer ins Leben zu rufen, der die Probleme grundlegend löst. Halten Sie diesen Vorschlag für realistisch?

Badawiya: Der Marshallplan wurde vor sechzig Jahren entwickelt, um Europa in der Konfrontation mit der Sowjetunion zu stärken. Es war also ein Plan von Staaten gegen andere Staaten.

Ich glaube, die Welt braucht auf wirtschaftlicher Ebene einen Plan, der das vorhandene Monopol bricht. Die G8-Staaten regieren die Welt im Interesse ihrer Privatunternehmen und der multinationalen Konzerne. Als Antwort auf diese Politik haben einige asiatische und afrikanische Staaten begonnen, regionale Vereinigungen zu gründen, um dieses Monopol zu brechen, wie etwa die "Internationale Organisation südostasiatischer Staaten" oder die "Südamerikanische Nationengemeinschaft". Das ist meiner Meinung nach positiv, aber nicht ausreichend.

Das Gespräch führte Ahmad Hissou

Übersetzung aus dem Arabischen von Larissa Bender

© DEUTSCHE WELLE 2007

Qantara.de

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