Repression nach Volksabstimmung
Die Türkei steht laut dem World Press Freedom Index 2017, den die zivilgesellschaftliche Organisation "Reporter ohne Grenzen" Ende April veröffentlicht hat, unter 180 Ländern auf Rang 155. Vor einem Jahr kam sie noch auf den 151. Platz. Seit Ende 2012 bezeichnet die Menschenrechtsorganisation die Türkei als das "größte Journalistengefängnis der Welt". Damals sprach sie von 72 inhaftierten Medienschaffenden. Mittlerweile sind es 160, wie der türkisch-deutsche Fernsehjournalist Kamil Taylan berichtete.
Allen wird laut Taylan in fadenscheinigen Anklagen Terrorismus vorgeworfen. Es gebe weder Beweise für die Mitgliedschaft in verbotenen Vereinigungen noch eindeutige Stellungnahmen zu deren Gunsten, deshalb werde den Journalisten vorgehalten, sie hätten beispielsweise auf Twitter eine unterstützende Haltung eingenommen.
Passagenweise seien die Anklagen zudem identisch, sagt Taylan, und müssten wohl per Copy-and-paste erstellt worden sein. Typischerweise werde den Journalisten vorgeworfen, sie unterstützten sowohl die kurdische PKK als auch die Gülen-Bewegung. Unabhängigen Beobachtern erscheint das unsinnig, denn die PKK und die Gülenisten haben nicht viel miteinander gemein – abgesehen davon, dass sie Gegner der AKP-Regierung sind. Offenbar setzt die Regierung oppositionelle Meinungen mit Terrorismus gleich.
Kein Rechtsstaat
Es gebe in der Türkei keinen Rechtsstaat, erklärte Taylan. Auch der Journalist Erkan Pehlivan sieht das ähnlich. 4.300 Richter und Staatsanwälte seien nach dem gescheiterten Militärputsch im Sommer entlassen worden – und viele wurden inhaftiert. Die Regierung berufe willkürlich neue Richter. Sie habe beispielsweise innerhalb von wenigen Stunden 900 Anwälte zu Richtern gemacht. 800 davon seien AKP-Mitglieder oder Unterstützer gewesen.
In mancher Hinsicht erinnert die aktuelle Entwicklung Pehlivan an die Militärdiktatur der 1980er Jahre. Damals hätten Sicherheitskräfte, die in weißen Renaults unterwegs waren, Dissidenten entführt – von denen manche so für immer "verschwanden". In den vergangenen Wochen seien in Ankara acht Menschen in VW-Bussen verschleppt worden. Zudem häuften sich Berichte über Folter und Vergewaltigung in Haft.
An den letzten Apriltagen startete die Regierung eine weitere Säuberungswelle. Pehlivan bilanziert, 9.000 Polizisten hätten ihren Job verloren, von denen 1.000 sofort inhaftiert worden seien. Gegen 2.000 weitere seien Haftbefehle erlassen worden.
Autoritärer Umbau von Staat und Gesellschaft
Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte versprochen, der Türkei Stabilität zu bringen, sollte er das Verfassungsreferendum vom 16. April gewinnen. Er fühlt sich mit seiner knappen Mehrheit aber wohl immer noch nicht fest im Sattel. Seine Regierung verlängerte sofort den Ausnahmezustand.
Den offiziellen Angaben zufolge war auf 51,4 Prozent der abgegebenen Stimmzettel das "Ja" angekreuzt. Die größte Oppositionspartei spricht von Manipulation. Auch Wahlbeobachter aus Europa beanstanden Verfahrensmängel. So habe die Regierung in letzter Minute Stimmzettel zugelassen, die nicht wie üblich amtlich besiegelt waren. Zudem habe es keine demokratische öffentliche Debatte vor dem Referendum gegeben, weil viele Medienhäuser geschlossen worden waren und viele Journalisten im Gefängnis saßen.
Auch aus Sicht von "Human Rights Watch" (HRW) fand der Wahlkampf in einem "sehr repressiven Klima" statt. Hugh Williamson von HRW appellierte an Präsident und Regierung, den Notstand sowie die Repression der Medien und der pro-kurdischen Opposition zu beenden.
Derlei scheint Erdoğan bislang nicht zu beeindrucken. Am 29. April blockierte seine Regierung den Zugang zur Online-Enzyklopädie Wikipedia und ließ weitere 4.000 Beamte aus Ministerien und Justiz entfernen.
Hans Dembowski