Der Paragraph 301 und die Ehre der türkischen Nation
In der türkischen Regierung gibt es Streit. Anlass ist der umstrittene Artikel 301 des Strafgesetzbuches, der für manche Staatsanwälte und Gerichte die Grundlage dafür ist, unliebsame Meinungsäußerungen zu sensiblen Themen vor Gericht zu bringen.
Mehr als 60 Intellektuelle, Journalisten, Verleger und Autoren, wurden in den letzten zwei Jahren wegen "Verunglimpfung des Türkentums", angeklagt. Darunter auch Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk, der aufgrund öffentlicher Kritik am Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern im Jahre 1915 vors Gericht kam.
Türkische Bürgerrechtler und EU-Politiker fordern seit langem die Reform oder Abschaffung des Artikels, den es seit Mitte 2005 gibt. Ankara aber stellte sich taub. Doch jetzt will die Regierung endlich handeln. Im Schnellverfahren. Und so kündigte letzte Woche Justizminister Mehmet Ali Sahin an, dass der Reformentwurf des Artikels 301 sei bereit. Weshalb diese Eile auf einmal?
Plötzlicher Reformeifer
Ende der Woche, am 19. Januar, jährt sich die Ermordung des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink zum ersten Mal. Und bis dahin wollte die Regierung die Änderung von 301 durch das Parlament bringen und der EU ihren Reformeifer beweisen. Gelingen wird ihr das nicht mehr. Ministerpräsident Erdogan musste zugeben, dass sich die Strafrechtsreform erneut verzögern werde.
Bohrenden Nachfragen aber anlässlich des Todestages von Dink kann sich die türkische Regierung nicht mehr entziehen. Schließlich hatte Staatspräsident Gül und die Regierung nach den Wahlen im vergangenen Jahr die Reform des Artikels versprochen. Und weil Dink eine historische Aufarbeitung der armenischen Tragödie forderte und sich für die Erhaltung der armenischen Kultur in der Türkei einsetzte, wurde er nach § 301 verurteilt und wenig später von Nationalisten ermordet.
"Die tödlichen Schüsse auf Hrant Dink sind ein Anschlag auf Demokratie und Pressefreiheit", lauteten damals die Worte des Ministerpräsidenten Erdogan, der für die Aufklärung alles in seiner Macht stehende tun wollte.
Die längst überfällige Nationalismusdebatte
Nach dem Mord bebte es politisch in der Türkei. Ob Sicherheitskräfte, Staatsanwälte, Polizei, Militär oder Geheimdienste: Gewisse Kreise von ihnen waren lange im Voraus über den bevorstehenden Mord informiert und vertuschten es.
Etliche Köpfe rollten und eine längst überfällige Nationalismusdebatte wurde entfachte, bei der sich Konservative eingestehen mussten, dass die Verschärfung des türkischen Nationalismus ein Ausmaß angenommen habe, das man als schädlich bezeichnen muss.
Es schien, dass der Mord an Dink zur größten Herausforderung für die türkische Gesellschaft geworden war. Denn er verdeutlichte, dass der Nationalismus nicht nur ein Ergebnis der türkischen Bildungspolitik ist, sondern vielmehr durch den Staat selber immer wieder am Leben erhalten wird.
Verwischte Spuren
Obwohl so viele hochrangige Kreise in diesen Mord verwickelt sind; laut dem Dink-Jahresbericht Spuren verwischt und gefälscht wurden; Unterlagen und Befragungen nicht zugänglich sind und Beweisstücke verschwunden sind: In der Aufklärung gibt es erste Ergebnisse.
So bestätigte Anfang des Monats die türkische Gerichtsmedizin, dass der Attentäter zur Tatzeit nicht wie angegeben 17, sondern 19 Jahre alt war. "Sollte das Strafgericht das Ergebnis akzeptieren, muss der Attentäter eine lebenslange Strafe bekommen", so Fetiye Cetin, die Anwältin der Familie Dink.
Vor zwei Wochen nahm auch endlich die fünfköpfige Untersuchungsdelegation zum Mordfall ihre Arbeit auf. Eine Delegation, die auf Wunsch der Witwe Rakel Dink eingesetzt wurde, Teil der Menschrechtskommission des Parlamentes ist und einen unabhängigen Bericht vorlegen will.
Die Familie Dink habe der Delegation bei der Aufklärung einen wichtigen Weg nennen können, zitieren türkische Medienberichte die ersten Bemühungen der Delegation.
Liest man aber den Jahresprozessbericht der Dink-Stiftung, dann brauchen selbst Juristen eine Schautafel, um die Verstrickungen in dem Mordfall überhaupt begreifen zu können. Der Bericht beklagt, dass alle gesammelten Informationen, Videoaufnahmen, Beweisstücke und Unterlagen, die es vor und nach der Ermordung am Istanbuler Tatort und in der Stadt Trabzon gab, in Ankara beim Geheimdienst versickert seien.
Die Ehre der Nation: strafrechtlich geschützt
"Der Mord, für den Pläne schon seit 2004 geschmiedet wurden, hätte längst geklärt werden können", heißt es in dem Bericht. Nachdrücklich fragt die Anwältin Cetin: "Wen schützen die Sicherheitskräfte und Geheimdienste eigentlich? Den Bürger vor etwaigen Gefahren oder schützt nicht vielmehr § 301 den autoritären Staat vor den Forderungen seiner Bürger?"
Der neue Entwurf sieht zwar leichte Verbesserungen vor. So soll das Wort "Türkentum" durch "Türkisches Volk" ersetzt werden und die Strafe auf zwei Jahre herabgesetzt werden. Für Christian Rumpf, Experte für Türkisches Recht, bedeutet es, dass der undefinierbare Begriff, der das Einfallstor für gefühlsbetonte Wertungen türkischer Strafrichter war, etwas konkreter wird und dass es schwieriger werde, die Behauptung des Völkermordes nach Artikel 301 zu bestrafen.
Fest steht, mit der Aufklärung des Mordes steht man erst am Anfang. Und wie wichtig dabei der Türkei ihr Stolz ist, bei der selbst die Ehre der Nation strafrechtlich geschützt werden muss, belegt der § 301, der den Gefühlen freien Lauf lässt.
Semiran Kaya
© Qantara.de 2008
Qantara.de
Prozess im Fall Hrant Dink
Aufruf zur Gewalt als Meinungsfreiheit
Im Januar wurde der armenische Journalist Hrant Dink erschossen. Die Hintergründe des Mordes sind noch immer nicht geklärt, auch ob türkische Sicherheitskreise darin verwickelt sind. Von Henriette Wrege
Türkische Medien zum Mord an Hrant Dink
Täter als Vaterlandsverräter
Obwohl die wenigsten türkischen Medienvertreter Hrant Dinks politische Überzeugungen teilten, waren sie sich zumindest in der Verurteilung des Mordes an dem renommierten Journalisten einig. Antje Bauer fasst die verschiedenen Pressestimmen der letzten Tage zusammen.
Mord an türkisch-armenischem Journalisten Hrant Dink
Ein Leben für Versöhnung und Dialog
Nach dem Mord an dem prominenten Journalisten Hrant Dink steht die Türkei noch immer unter Schock. Dorian Jones berichtet aus Istanbul über den couragierten Publizisten, der sich sein Leben lang für Demokratie und Freiheit einsetzte.