Über den Stacheldraht hinwegdenken

Die christliche Privatschule "Talitha Kumi" im Westjordanland ist von der israelischen Mauer umgeben. Schulleiter Georg Dürr will in einer aussichtslos scheinenden Situation wieder Lebensmut finden.

Von Mona Sarkis

Übersetzt bedeutet "Talitha Kumi": "Mädchen, steh auf!" - die Worte, mit denen Jesus nach dem Markusevangelium die tote Tochter des Jairus auferweckt haben soll.

"Schön, nicht wahr?", fragt Georg Dürr. Der hochgeschossene Mann mit dem feinen Lächeln ist definitiv ein Optimist. Aber deshalb noch lange kein Idealist. Vor drei Jahren trat Dürr sein Amt als Leiter von Talitha Kumi an – mit Krisenerfahrung. Die hat der einstige Tübinger Mathematiklehrer als jahrelanger Leiter deutscher Privatschulen in Namibia und Südafrika gesammelt.

"Man lernt, wie man mit seinen Ängsten in einem Apartheidsystem umgeht". Etwa, als er für die Öffnung der Schulen für Schwarze eintrat und den Entrüstungssturm der Weißen lostrat. Wie man da reagiert? Mit Sturheit, Optimismus und Vermittlungsgeschick. Sagt Dürr, und handelt danach.

Stur bleibt er etwa, wenn regelmäßig NGOs an seine Tür klopfen. Ihre eifrigen Offerten, "Peacebuilding" und "Conflictresolution" zu lehren, beantwortet er mit der Gegenofferte, die Konfliktherde in seinen Klassenzimmern aus der Nähe zu studieren.

Etwa nach dem Wahlsieg der Hamas, als ein Neuntklässler triumphierend zu den Schulschönheiten stürmte und ihnen verkündete, bald ein Kopftuch tragen zu müssen, was ihm eine Prügelei mit einem älteren Schüler einbrachte.

Stur zu bleiben gilt es für Dürr auch beim Verstehen der Religionen. Anstatt voneinander etwas anzunehmen, sollen sich die christlichen und muslimischen Kinder in aller Offenheit und zulässigen Naivität Fragen stellen: Was bedeutet für dich das Fasten während des Ramadan? Oder: Warum gibt es eine heilige Dreifaltigkeit – können sich die Christen nicht entscheiden?

Verständnis statt Konfrontation

Einen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung will er noch in einem anderen Punkt leisten: Der Umstand, dass der Anteil behinderter Kinder in Palästina steigt – unter anderem, weil die in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkten Menschen zunehmend untereinander heiraten – ist bestürzend, aber weder Grund zum Verzagen noch zum Verstecken.

Infolgedessen scheut er sich nicht, mit seinem eigenen behinderten Kind in der Öffentlichkeit aufzutreten.

Mitunter gehen ihm aber die Antworten auch aus. Etwa, wenn sich die israelischen Soldaten damit rechtfertigen, dass nichts von dem, was sie den Palästinensern antun, "so schlimm wie der Holocaust" wäre.

Dürr wirkt in solchen Momenten fast resigniert, rafft sich aber gleich wieder auf: Nicht Konfrontationen, sondern nur gegenseitiges Verständnis bringt weiter.

Das will er vermitteln, ob es nun um das vom palästinensischen Kulturministerium gewünschte und von Israel als Provokation empfundene Hissen der palästinensischen Flagge auf dem Schulgebäude geht oder um Unterredungen mit dem israelischen Militär bezüglich eines erleichterten Schulzugangs für die Kinder, die jenseits der Mauer wohnen.

Chance für Frauen

850 Kinder zählt die 1851 von dem Pfarrer Theodor Fliedner gegründete Schule, deren Träger seit 1975 das Berliner Missionswerk ist. Seit 2000 ist sie als UNESCO-Schule anerkannt.

1979 führte das einstige Mädchenerziehungsheim den gemischten Unterricht ein, womit die in 2006 gewählte Hamas-Partei keine Probleme hat: Im Koran stünde nichts Gegenteiliges.

Schwerer tun sich da die Eltern, die ihre Jungen nach Talitha Kumi, ihre Mädchen aber lieber in Mädchenschulen schicken. Heute besuchen die Schule 51 Prozent Jungen und 49 Prozent Mädchen. Der Anteil der Christen liegt derzeit bei 65 Prozent, doch immer mehr von ihnen verlassen Palästina.

Dürrs Hauptanliegen gilt der Verbesserung des auf Auswendiglernen fokussierten palästinensischen Lehrplans. Methodische und soziale Kompetenzen, ohne die der Kampf um Arbeitsplätze in der globalisierten Welt recht aussichtslos sei, seien bislang wenig gefragt.

Dass das Potenzial jedoch sehr wohl vorhanden ist, beweisen nicht zuletzt die Frauen von Talitha Kumi, die es in Führungspositionen schafften. Etwa die parteilose Kholoud Daibes Abu Dayyeh, Ministerin für Tourismus und Familienangelegenheiten in der Nationalen Einheits- und in der momentanen Notstandsregierung:

"Sie spricht fließend Deutsch, kann in die europäische Denke einsteigen und zugleich mit der Hamas oder der Fatah verhandeln." Das, so Dürr, seien die Leute, die Palästina bräuchte.

Hilfreich sei, dass Deutsch seit dem letzten Schuljahr als versetzungsrelevant gelte. Die Einsicht habe sich durchgesetzt, dass neben Englisch eine zweite Fremdsprache existentiell sei.

Mit Dreisprachigkeit wider die Perspektivlosigkeit

Dürr will nun den nächsten Schritt angehen und in der weitgehend vom Berliner Missionswerk finanzierten Schule das Deutsche Internationale Abitur einführen. Außenminister Walter Steinmeier habe bereits grünes Licht gegeben.

"In dieser Prüfung würden sich Deutschland und Palästina die Verantwortung für den Lehrplan teilen, der dann zu 50 Prozent in deutscher Sprache unterrichtet würde. Naturwissenschaften werden in Englisch, der Rest in Arabisch gelehrt".

Ein Teil der künftigen Generation Palästinas wäre so schon einmal dreisprachig. Käme noch Hebräisch hinzu, würden sich auch die Arbeitschancen auf dem israelischen Markt vergrößern.

Aber der ist doch seit dem Mauerbau verbarrikadiert? Dürr lächelt. Sicher, die Arbeitslosigkeit unter den Palästinensern ist auf verheerende 70 Prozent gestiegen, aber – "es gab ja auch einmal eine Zeit ohne Mauer".

Der Mann aus Tübingen bleibt seinem Optimismus und dem von Talitha Kumi treu. Anders ginge es wohl auch nicht.

Mona Sarkis

© Qantara.de 2007

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