Politisch keineswegs auf neutralem Boden
In der Türkei hat die Verfolgung regimekritischer Journalisten seit dem gescheiterten Putschversuch bekanntlich System. Viele von ihnen sind ins Exil gegangen und versuchen von dort aus mit eigenen TV-Sendern und Internetportalen der regierungstreuen Berichterstattung in ihrer Heimat entgegenzuwirken.
In Deutschland ist die Konzentration solcher alternativer Medienprojekte, die meist zweisprachig betrieben werden, besonders hoch. Beim WDR läuft "Türkei unzensiert", die Tageszeitung "taz" veröffentlicht ihre "gazete" und der nach Deutschland geflohene Chefredakteur des türkischen Blatts "Cumhuriyet", Can Dündar, leitet neben seiner wöchentlichen Kolumne für die "Zeit" das Portal "Özgürüz", das vom deutschen Recherchenetzwerk "Correctiv" unterstützt wird. Und von Köln aus betreiben türkischstämmige und im Exil lebende Journalisten den TV-Sender "Arti TV", der allerdings nur auf Türkisch sendet.
Unlängst hat sich eine weitere regierungskritische Exil-Initiative dazugesellt, die auf eine breitere internationale Wirkung abzielt. Das in London beheimatete, aber von mehreren Ländern aus betriebene neue Nachrichtenportal wählte nicht zufällig als Namen den türkischen Arabismus "Ahval" (von "ahwal" abgeleitet, Ereignisse).
Denn es wendet sich außer auf Türkisch und Englisch nun als erstes seiner Art auch auf Arabisch an die Leser. Für "Ahval" zeichnet der 61jährige türkische Journalist Yavuz Baydar verantwortlich – einer der Mitbegründer der 2013 gestarteten türkisch-englischen investigativen "Platform 24". Baydar hatte unmittelbar nach dem Putsch die Türkei verlassen und war zuletzt etwas länger als ein Jahr Kolumnist der "Süddeutschen Zeitung".
Dem Panarabismus verpflichtet
Die Einbeziehung des arabischsprachigen Angebots hängt wohl mit seinem neuem Geldgeber zusammen: Dem Londoner Pressehaus "Al Arab", das seit seiner Gründung im Jahr 1977 durch den Exil-Libyer Ahmad al-Huni mit gleichnamiger Zeitung jahrzehntelang Panarabismus und Säkularismus propagierte.
Das Medienunternehmen wird aber schon länger von den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) subventioniert, die damit eher außenpolitische als ideologische Interessen verfolgen dürften und – wie Saudi-Arabien – der Türkei wegen ihrer Sympathien für die ägyptischen Muslimbrüder äußerst kritisch gegenüberstehen. Ankara hat seinerseits die VAE bezichtigt, den Putschversuch finanziell unterstützt zu haben.
"Ahval" agiert also, anders als es mit den Deutschland-basierten türkischen Medieninitiativen der Fall zu sein scheint, politisch keineswegs auf neutralem Boden. Chefredakteur Baydar behauptet dennoch, alle Freiheiten bei der Inhaltsgestaltung zu haben und keine militante Oppositionsarbeit betreiben zu wollen, sondern sachlichen Journalismus. Diesem Anspruch wird man allerdings in der arabischen Version, zumindest beim heiklen Thema Muslimbrüder, kaum gerecht. Dies wird etwa an einem Beitrag des ständigen "Al-Arab"-Mitarbeiters Hisham al-Nagar deutlich, der in der englischen und türkischen Version bezeichnenderweise nicht zu finden ist.
Verquere Verbindung zu Hassan al-Banna
Krampfhaft versucht der ägyptische Journalist, Präsident Erdoğans Kommentar zu dem kürzlichen verheerenden Anschlag auf eine Moschee im Nordsinai – "die Terroristen haben mit dem Islam nichts zu tun" – mit einer ähnlich lautenden Aussage von Hassan al-Banna, dem Gründungsvater der Muslimbrüder, in Beziehung zu setzen: Im Dezember 1948 habe Al-Banna die Ermordung des ägyptischen Ministerpräsidenten Mahmud al-Nuqrashi durch einen radikalisierten Anhänger der Bruderschaft mit den Worten verurteilt, solche Leute seien weder (Muslim)Brüder noch Muslime.
Nicht nur diese Analogie, mit der Al-Nagar Erdoğan in die Nähe des islamistischen Terrorismus rückt, ist äußerst manipulativ. Auch das angeführte Zitat von Al-Banna ist mit Vorsicht zu genießen, denn im arabischen Internet begegnet es in allerlei Zusammenhängen, wobei es chronologisch unterschiedlich verortet wird.
Bisweilen alarmistische Rhetorik
Solche auf die Manipulation bestimmter Lesergruppen zielende Berichte, die mitunter zu erheblichen Unterschieden zwischen den drei sprachlichen Versionen von "Ahval" führen, sind allerdings eher selten anzutreffen. Das Themenspektrum ist bei allen Ausgaben weitgehend identisch. Es gibt relativ viele sehr kurze Beiträge, die, obgleich sie von Nachrichtenagenturen stammen, mit ebenso großen Bildern aufgemacht sind wie die wenigen Kommentare und Hintergrundberichte.
In der türkischen Version widmet man sich – wie auch bei den vergleichbaren Medienprodukten aus Deutschland – sehr häufig der Figur und den Äußerungen Erdoğans. Manches, was auf Türkisch angeboten wird, ist Presseberichten entnommen, die bereits im türkischen Internet veröffentlicht wurden und deshalb Lesern in der Türkei im Wesentlichen bekannt sein dürften.
Dass sich für Intellektuelle die Lage dort zuspitzt, wird immer offensichtlicher und dass "Ahval" dagegen mit bisweilen alarmistischer Rhetorik mobilisieren will, ist verständlich. So sieht der für die englische Ausgabe zuständige türkische Publizist Ilhan Tanir in seiner Analyse die Türkei bereits auf dem Weg zum "Totalitarismus". Er befürchtet, dass die kürzliche Verhaftung von Şaban Kardaş, Leiter des Nahost-Forschungsinstituts "Osram" in Ankara, das doch für seine ausgesprochene Regierungsnähe bekannt sei, der erste Schritt in Richtung Zerschlagung der türkischen Zivilgesellschaft sein könnte.
Joseph Croitoru
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