Die Kids von Beni-Anzar

Vielen Kindern und Jugendlichen aus dem armen Norden Marokkos erscheint ihre Heimat die Hölle, die spanische Exklave Melilla dagegen als Ort der Glückseligkeit. Dafür riskieren sie ihr Leben, um die Grenze zu überwinden. Von Steffen Leidel

Marokkanische Straßenkinder; Ausschnitt aus einem Film von Nabil Ayouch
Immer wieder an der Grenze ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen - Straßenkinder in Marokko

​​Prominente Gäste sind in der spanischen Exklave Melilla eher selten. Wenn sie mal kommen, dann steigen sie meist im Hotel Melilla Puerto ab. Ende Januar war sogar José Luis Rodríguez Zapatero da.

Es war der erste Besuch eines spanischen Ministerpräsidenten seit 25 Jahren in der Exklave, die auch von Marokko beansprucht wird.

Auf dem Parkplatz vor dem mächtigen Gebäude weist Abdul große Limousinen in die Parklücken ein. Es ist 21 Uhr, eine Stunde wird der 19-jährige Marokkaner noch bleiben. Fünf Euro macht er so jeden Abend, tagsüber kommt er nicht, "da ist ja Mohammed da." Und auf dem Parkplatz sei nun mal nur Platz für einen Anweiser.

Es ist schon fast zehn Jahre her, da verließ Abdul die Mutter und die sechs Geschwister. Aufgewachsen ist er in einer der ärmsten Regionen Marokkos, der Gegend rund um die Stadt Nador, wenige Kilometer von der spanischen Exklave entfernt. "Daheim durfte ich nicht in die Schule, musste arbeiten, immer sechs Tage die Woche, Sachen schleppen".

Melilla schien die Rettung, Abdul verließ die Mutter, um sein Glück zu finden. Und das Glück, das sind die "Papeles", Papiere. Die ersehnte Aufenthaltsgenehmigung bekam er aber nicht, ob er sie jemals bekommen wird, ist ungewiss. Denn ohne Arbeit keine Genehmigung und ohne Genehmigung keine Arbeit. Damit ist Abdul ein "Illegaler". "Die Hotelangestellten sind sehr nett und sagen nichts wenn ich die Autofahrer um ein paar Cent frage", sagt er.

Leben in der Mülltonne

Dass er nicht auf der Straße leben muss, hat Abdul José Palazón, Vorsitzender der Hilfsorganisation Prodein, zu verdanken. Die von der Stadt Melilla betriebenen Aufnahmezentren sind nur für Jugendliche unter 18 Jahren vorgesehen. Abdul wohnt jetzt in der Wohnung eines Bekannten von Palazón.

Die Lage für die Jugendlichen habe sich in den vergangen Jahren deutlich verbessert, sagt Palazón. "Als ich mit Freunden die Organisation Ende der 1990er Jahre gründete, schliefen die meisten Kinder auf der Straße, schnüffelten Klebstoff. Direkt gegenüber meiner Wohnung schlief ein Junge in einer Mülltonne", erinnert er sich. Inzwischen hätten die Jugendlichen zumindest ein Dach über dem Kopf und könnten in die Schule.

Das sei aber nur eine Seite der Medaille. "Die Polizei geht oft brutal mit den Kindern um. Immer wieder werden die an der marokkanische Grenze ausgesetzt, einfach ihrem Schicksal überlassen", kritisiert Palazón.

Auch in einem der Aufnahmezentren gibt es immer wieder Berichte über Misshandlungen. Das Heim "La Purísima" liegt am Rande der Exklave, gleich neben dem Grenzzaun und einer alten Kaserne. Die rund 160 Jugendlichen sind in mehreren Baracken untergebracht. Eine Rüge kam kürzlich vom Europarat. Er ermahnte Spanien, für besseren Schutz der minderjährigen Flüchtlinge zu sorgen.

Schläge auf Bein und Kopf

Einige der Jugendlichen sind bereit, zu sprechen. Nicht weit von dem Heim liegt ein Schrottplatz. Ein alter Bauwagen dient den Jungen als Treffpunkt. Mit alten Decken und Teppichen haben sie es sich hier gemütlich gemacht. Sie reichen Tee.

Einer der Jungen zeigt auf sein Bein. Am Schienenbein sind mehrere blaue Flecken zu sehen, sein Auge ist geschwollen. "Einer der Betreuer hat mich geschlagen und tagelang in ein Zimmer gesperrt.", sagt er. Ihre eigenen Namen wollen die Jugendlichen nicht nennen, aus Angst vor dem Betreuer S. . "Der terrorisiert uns, schmeißt Teller einfach auf den Boden, um uns Angst einzujagen."

Traumatisch ist das, woran sie sich erinnern. Einer, den sie den "Chinesen" nennen, lebte lange auf der Straße direkt am Grenzübergang Beni-Anzar. "Ich hasse mein Heimatland, es gibt kein Recht dort. Da an der Grenze schlafen die Kinder auf Kartons, die Mädchen werden von Männern vergewaltigt, alle schnüffeln Klebstoff. Es ist schlimm."

An der Grenze zwischen Arm und Reich

Der Übergang Beni-Anzar: 30.000 Menschen passieren hier täglich, 5000 Fahrzeuge. Polizisten stehen wie Rambos mit Sonnenbrillen wild fuchtelnd inmitten des Getümmels, mit Trillerpfeifen dirigieren sie die Massen.

Auf der spanischen Seite, gleich hinter dem Grenzzaun ist ein riesiger Markt. Das, was für Europäer Wohlstandsmüll ist, wird hier zur begehrten Ware: Stoffreste, Plastikflaschen, Elektroschrott.

Es sind vor allem Frauen, die die Sachen zu riesigen Ballen zusammenbinden und dann im Laufschritt die Grenze passieren. "Bis zu fünf Mal am Tag machen die das, auf der anderen Seite wartet ihr 'Patron', der gibt ihnen ein paar Cent pro Ballen und verkauft die Waren dann weiter", sagt Palazón.

Viele Kinder, die in Melilla leben, sind Söhne und Töchter dieser Frauen, die vor allem in der grenznahen Stadt Nador leben. "Die schaffen ihre Kinder über die Grenze, weil sie hoffen, dass es ihnen dort besser geht. Immer mehr Jugendliche kommen aber auf eigene Faust, auch von weit her", so Palazón.

Die marokkanischen Jugendlichen versuchen im Gegensatz zu den Schwarzafrikanern nie über den Stacheldrahtzaun nach Melilla zu gelangen. Stattdessen nutzen sie das Gewimmel an der Grenze aus und schleichen sich an den Polizisten vorbei.

Manche klettern unter Lastwagen und halten sich dort am Gestell fest. Wieder andere wählen den gefährlichsten Weg, den über das Meer. Im Süden der Exklave ist der marokkanische Hafen nur 200 Meter Wasserlinie vom spanischen entfernt.

"Die stürzen sich sogar im Winter in das eisige Wasser und versuchen hinüber zu schwimmen. Wir mussten schon mehr als einen völlig unterkühlt aus dem Wasser ziehen", sagt ein Beamter der Militärpolizei Guardia Civil.

Die Regierung der Exklave von Melilla will nun helfen, Aufnahmezentren in Marokko zu errichten. Palazón steht dem Vorhaben skeptisch gegenüber: "Es ist ja schön, wenn die Heime für die Straßenkinder in Marokko gedacht sind. Es wäre aber furchtbar, wenn diese Heime für abgeschobene Jugendliche benutzt würden. Die werden immer wieder versuchen nach Spanien zu kommen und wenn sie dafür ihr Leben riskieren."

Steffen Leidel

© DW-WORLD.DE 2006

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