Ein Schiff wird kommen...
"Nach Spanien willst Du also...?!", der Mann mit dem Vollbart und der grünen Hippiemütze blickt misstrauisch. Er nennt sich Mohamed. Das ist ein ehrbarer Name und zugleich ein so weit verbreiteter, dass er Anonymität garantiert. Normaleweise fragen ihn europäisch aussehende Personen im Flüsterton nach Haschisch oder Bordellen. "Hast Du keinen Pass?!" fragt er mich.
Der Ort, an dem Gespräche dieser Art in der Regel geführt werden, ist der "Zocco Chico", ein kleiner Platz in der Altstadt von Tanger. Hier tranken schon Schriftsteller wie Bowles, Burroughs und Choukri ihren Kaffee – und hier rauchten sie auch ihr Rauschgift. Nachbarn treffen sich im Café Central, um gemeinsam Fußball zu schauen oder um Kommentare über die Touristen abzulassen, die hier leicht verunsichert herumlaufen. Kinder stürmen lärmend aus kleinen Gassen hervor, fliegende Händler bieten Zigaretten, Kichererbsen und Uhren feil. Halbstarke auf Motorrollern preschen zwischen den Passanten hindurch, umkurven eine Schwarzafrikanerin, die einen Säugling auf ihrem Rücken trägt.
Baby als Reisepass
Alle farbige Frauen, die man in Tanger sieht, tragen ein Kleinkind mit sich herum. "In Europa ist das ist ihr Pass", erklärt Mohamed. "Wenn sie ein Kind haben, dürfen sie nicht abgeschoben werden. Erst bekommen sie ein Kind, dann kommen sie hierher und warten auf das Boot."
Das Boot! "Patera" nennen sie die starken Außenborder hier, Marke "Zodiak". "Mit dem Zodiak bist du schnell und sicher drüben." Mohamed bietet die Überfahrt für 10.000 Dirham an, das sind 1.000 Euro; die Anzahlung liegt bei 2.500 Dirham. "Wir können jetzt zum Chef gehen. Dort wirst du registriert.
Wenn 20 Passagiere zusammen sind, geht es los. Bis dahin musst du jeden Abend hier sitzen, bis dich jemand abholt. Am Boot bezahlst du den Rest. Du musst noch ein zweites Set Kleidung mitnehmen. Das ziehst du an, wenn ihr die spanische Küste erreicht habt. Oberhalb des Strandes verläuft die Straße. Du fährst per Anhalter in die nächste Stadt und von da mit dem Bus nach Madrid, Barcelona... Dann bist du frei!"
Mit Aufpreis einen "Luxusplatz" im Container
Mohameds Augen leuchten beschwörend und er bietet noch eine weitere Möglichkeit an. "Für 20.000 schmuggeln wir dich in einem Container auf eine Fähre. Das ist sicherer. Wenn du einen Pass hast, besorgen wir dir ein Visum. Das sieht aus wie ein echtes. Alles eine Frage des Geldes."
Ob seriös oder unseriös, der Menschenschmuggel in Marokko blüht und ist mittlerweile lukrativer als der Drogenhandel. Die Zahlen sind widersprüchlich. Bis zu 5.000 Menschen sollen seit dem Schengener Abkommen beim Versuch, die spanische Küste illegal zu erreichen, ertrunken sein. Allein im Jahre 2002 wurden 13 500 "Boatpeople" von der spanischen Küstenwache festgenommen. 6.000 Minderjährige sollen es laut marokkanischen Angaben nach Spanien geschafft haben. 300.000 Marokkaner leben angeblich bereits dort.
Jede Nacht brechen mehrere hundert Menschen in kleinen Booten von der Küste Nordafrikas Richtung Spanien auf. Zum Teil brauchen die kleinen Boote zwei Tage, bis sie das unberechenbare Meer überquert haben. Ausgangspunkte sind Orte entlang der Mittelmeerküste, die Emigranten aus dem südlichen Afrika fast unbehelligt via Algerien erreichen. 3.000 Durchreisende beherbergt allein die Grenzstadt Maghnia täglich, die dort auf jemanden warten, der ihnen den Weg zu einem Boot weist. Auch das ist Business.
Vom Lockruf Europas
Auf marokkanischer Seite verlassen vor allem Jugendliche scharenweise ihre Heimat. Und das, trotzdem es in Marokko keinen Bürgerkrieg und keinen Hunger gibt und die jüngsten Wirtschaftsdaten positiver sind, als in Ägypten, Tunesien oder Jordanien. Europa gilt als das verlockende Eldorado.
Viele kennen märchenhafte Erfolgsgeschichten von Freunden oder Angehörigen, die den Schritt gewagt haben. Einer französischen Studie zufolge träumen zwischen 50 und 70 Prozent aller Hochschulstudenten von einer Karriere in Europa, USA oder Kanada. Sie investieren hunderte von Euro in Aufbaukurse, die für das Studium im Ausland vorbereiten. Nur die Hälfte kehrt in ihr Heimatland zurück.
Marokkanische Medien schildern täglich tödliche Flüchtlingsdramen und prangern junge Männer an, die ihre Eltern bedroht haben, um an das Geld für die Überfahrt zu kommen. Über die Ursachen des Exodus schweigt man sich aus. Die Zeitung "Maroc Hebdo" attestiert der Nation eine "Identitätsschizophrenie" oder eine "Rette sich wer kann"-Einstellung.
Dabei ist offensichtlich: Vielen Jugendlichen wird ihr Land zu eng. Hohe Arbeitslosigkeit, keine lukrative Perspektive, Leben auf engstem Raum mit der Familie. Die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit wird unterdrückt: Im letzten Frühjahr wurden 14 Jugendliche wegen "praktiziertem Satanismus" zu Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie der Hardrock-Musik gefrönt hatten. Jährlich sehen sie Millionen vergnügungssüchtige Urlauber aus Europa durch das nordafrikanische Königreich ziehen, ohne selbst die Chance zu haben, den alten Kontinent zu besuchen.
Und dann der Blick auf die spanische Küste... Die verführerische Aussicht, sich dort als einfacher Kellner über Wasser zu halten, scheint vielen die gefährliche Überfahrt wert. "Man kann mich nicht davon überzeugen, dass illegale Emigration ein Weg in den Tod ist. Auswanderung ist auch ein Weg der Selbstachtung", schildert ein arbeitsloser Akademiker aus Casablanca die Stimmung.
Gebt uns Geld oder wir geben euch Flüchtlinge!
Marokko soll demnächst Teil der europäischen Freihandelszone werden. Im Zuge dieser Entwicklung soll ein Tunnel nach Spanien den Warenaustausch erleichtern. Doch die Flut der Emigranten, die an Spaniens Küste schwappt, schürt die Xenophobie vor Ort. Das Verhältnis zwischen Madrid und Rabat ist gespannt.
Zwar kooperieren ihre Sicherheitsapparate bereits bei der Überwachung der Meerenge von Gibraltar: Im Dezember einigten sich die Länder über die Rückführung illegal eingewanderter Minderjähriger, gemeinsame Patrouillen sollen ab Januar 2004 Jagd auf die Flüchtlingsboote machen. Marokkos König Mohamed VI kündigte im eigenen Land ein verstärktes Vorgehen gegen den organisierten Menschenschmuggel an. Gleichzeitig fordert er aber mehr finanzielle und logistische Unterstützung bei der Grenzsicherung. Manche Spanier fühlen sich von Rabat erpresst.
Mohamed vom Zocco Chico indessen will sein Land nicht verlassen. "Ich habe mittlerweile ein kleines Haus in den Bergen", erzählt er. "Was soll ich in Europa?" Auf die Frage, was wohl passiert, wenn der Tunnel zwischen Spanien und Marokko gebaut sein wird, antwortet Mohamed mit einem schelmischen Grinsen. "Du kannst ja warten, bis der Tunnel fertig ist. In der Zwischenzeit wirst du aber noch viel Geld für Tee ausgeben!"
Lennart Lehmann
© Qantara.de 2003
Lesen Sie zu diesem Thema auf Qantara.de auch die Rezension des Buches "Kannibalen" von Mahi Binebine