Zunehmender Antisemitismus
Die Angriffe auf französische Juden haben zugenommen. Dabei sind die Ursachen für dieses Phänomen vielschichtig und sowohl historisch als auch gesellschaftspolitisch begründet. Eine Analyse von Bernhard Schmid aus Paris
Der Nahostkonflikt wird längst auch im Himmel ausgetragen. Das allerdings in einem ganz irdischen Sinne: Per Satellit übertragene Fernsehsender spielen eine ebenso wichtige Rolle bei der Mobilisierung von Anhängern im israelisch-arabischen Konflikt wie etwa das Internet. Ein Konflikt, der von mehreren Seiten zu einem Kampf zwischen Volksgruppen und Religionen hochstilisiert wird.
Maßnahmen gegen Propagandasender
Frankreich möchte dieser entterritorialisierten Ausbreitung des Konflikts nun allerdings auf seinem Boden einen Riegel vorschieben. Jedenfalls über eine gewisse Grenze hinaus soll keine nationalistisch-religiös gefärbte "Propaganda" in Frankreich lebende Menschen zum Hass anstacheln.
Im konkreten Falle richtet sich das Vorhaben der Regierung Raffarin gegen einige arabischsprachige Fernsehsender, vor allem gegen den durch die libanesische schiitische Hizbollah betriebenen Fernsehsender Al-Manar.
Dem Sender wird insbesondere vorgeworfen, während des letzten Ramadans im Spätherbst 2003 eine 30-teilige Serie unter dem Titel "Exil" ausgestrahlt zu haben. In ihr werden Verschwörungstheorien über ein angebliches jüdisches Komplott zur Beherrschung der Welt neu aufgewärmt, wie sie etwa jene berühmte Fälschung aus dem zaristischen Russland – mit dem Titel "Die Protokolle der Weisen von Zion" – auszeichnen.
Die französische Regierung will nunmehr den "Obersten Medienrat" dazu ermächtigen, die Verwaltungsgerichte gegen Sender wie Al Manar einzuschalten. Der Rat achtet über die Einhaltung demokratischer Mindeststandards durch Radio und Fernsehen.
Die Gerichte sollen ihrerseits dem europäischen Satellitenbetreiber Eutelsat anordnen können, den Empfang von Al Manar – mittels Satellitenschüssel auf französischem Boden – zu verhindern.
Zunehmende Attacken auf französische Juden
Diese Entscheidung vom 31. Januar steht im Zusammenhang mit den seit 2000 stark zunehmenden Übergriffen auf französische Juden und jüdische Einrichtungen. Von 2000 bis 2003 wurden rund 1.300 Straftaten gegen jüdische Personen und Symbole gezählt.
Ein nicht unbedeutender Teil dieser Attacken wurde, jedenfalls sofern Tatverdächtige festgestellt oder verurteilt werden konnten, von Angehörigen der nordafrikanischen Einwandererbevölkerung begangen - meist von jungen Männern, die bereits vorbestraft waren.
Ein kleinerer Teil der verbalen oder physischen Aggressionen, deren Urheber ausfindig gemacht werden konnten, hatten französische Rechtsextremisten begangen. Letztere nutzen mitunter Ereignisse, bei denen jugendliche Einwanderer gegen jüdische Personen aggressiv werden, um dann als "Trittbrettfahrer" aktiv zu werden.
Ein wenn auch verbaler, aber sehr bezeichnender Übergriff, ereignete sich während eines Konzerts der französisch-jüdischen Sängerin Shirel am 31. Januar im ostfranzösischen Mâcon. 30 bis 50 als "maghrebinisch" beschriebene Jugendliche skandierten während des Konzerts unter anderem: "Schmutzige Jüdin!" und "Tod den Juden!"
Daraufhin wurden fünf Beteiligte, darunter vier Minderjährige, festgenommen und verhört. Bisher ist nicht sicher, ob es sich um eine geplante Provokation handelt oder um einen mehr oder weniger "spontanen" Ausbruch - als Reaktion auf ein Lied mit dem Namen "Jerusalem".
Solidarisch im Kampf gegen den Hass
Neunzig Prozent der arabisch- oder berberstämmigen Einwanderungsbevölkerung aus Nordafrika verurteilt allerdings solche Taten. Und "an der Basis" versuchen auch viele Immigrantenvereinigungen, diesen Ressentiments zwischen den Bevölkerungsgruppen entgegen zu treten.
„Radio Beur“, ein Radiosender für nordafrikanische Immigrantenkinder, und „Radio Shalom“, ein Sender für französische Juden, organisierten zur Zeit des Einmarsches der israelischen Armee in Dschenin eine gemeinsame Veranstaltungsserie.
Die pazifistische "Französische Jüdische Union für den Frieden", die für eine Zweistaatenlösung im Nahostkonflikt eintritt sowie die eher linke "Vereinigung maghrebinischer Arbeiter in Frankreich" treten ebenfalls seit Jahr und Tag gemeinsam auf.
Identifizierung mit den Palästinensern
Dagegen lässt ein Teil der eingewanderten Bevölkerung ihren Ressentiments gegenüber Juden offen und unbefangen ihren freien Lauf. Sie sehen sich oft selbst als Opfer der herrschenden Gesellschaft. Dabei identifizieren sich viele arabischstämmige Jugendliche oftmals spontan mit "den" Palästinensern.
Bestärkt werden sie in ihren Anschauungen durch Bilder von der Besatzungsherrschaft, die ihnen durch die Medien vermittelt werden. Durch die Aufnahmen, die u.a. drangsalierte Menschen an militärischen Check-points zeigen, meinen viele Immigrantenkinder sich an ihre Situation in Frankreich wieder zu erkennen – so z.B. an die täglichen Kontrollen und Schikanen durch Uniformierte.
Diesen Identifikationswunsch hat es im Ansatz bereits zur ersten Intifada nach 1987 gegeben. Damals hatte er aber nicht die gleichen Konsequenzen wie heute.
"Ethnisierung" des Konflikts
Denn problematisch ist nicht dieser zwar legitime, wenngleich oft mit wenig profunder Kenntnis des Konflikts verbundene Solidarisierungswunsch, sondern vor allem die fatale "Ethnisierung", die seit einigen Jahren eingesetzt hat.
Denn bei vielen Parteinahmen geht es heute gar nicht mehr um die dem Konflikt ursprünglich zugrunde liegenden materiellen Fragen, sondern darum, dass das "bessere Volk" oder die "richtige" Religion sich durchsetzen soll.
Das ermöglicht es, auch die in Frankreich lebenden Juden mit in den Konflikt einzubeziehen – als seien sie israelische Staatsbürger oder gar für die Politik Israels verantwortlich. Über diese Einbeziehung der jüdischen Community im Lande selbst wiederum ist die Rückkopplung an verschwörungstheoretische Wahrnehmungsmuster möglich.
Das ist eine neuere Entwicklung der letzten Jahre. Zum ersten Mal manifestierte sie sich durch zunehmende antijüdische Aggressionen in Frankreich, im Zuge der zweiten Intifada im Herbst 2000.
Extremismus verschiedener Couleur
Damit nicht zu verwechseln sind die militanten politischen Zusammenstöße, die es mitunter mit extremistischen jüdischen Vereinigungen geben kann, wie mit dem paramilitärischen Bétar und vor allem mit der rechtsextremen "Ligue de Défense Juive".
Letztere mobilisierte die Anhänger des 1990 in New York getöteten Ethno-Extremisten Rabbi Kahane, deren Organisationen in den USA und in Israel verboten sind. Diese Ultras machen ihrerseits kaum Unterschiede zwischen politischen Gegnern und der arabischen Zivilbevölkerung. In der Vergangenheit fielen sie durch Störungen pro-palästinensischer Veranstaltungen auf.
In die Tat umgesetzt wird der Hass vorwiegend von Gruppen, die sich spontan bilden. Meist entstammen sie den tristen und sozial vernachlässigten Trabantenstädte der Banlieues.
Daneben gibt es auch extremistische islamistische Kleingruppen, die versuchen, die Stimmung anzuheizen. Sie unterscheiden sich von den moderat auftretenden, größeren islamistischen Strömungen, die sich eher mit den Geschlechterverhältnissen und Fragen islamischer Kleidungs- oder Essvorschriften beschäftigen.
Die Kolonialzeit als wichtiger Faktor
Eine weitere Ursache liegt in der Vorgeschichte der nordafrikanischen Kolonialgesellschaften begründet. Vor allem in Algerien, wo unter der französischen Vorherrschaft ein nach Religionsgruppen geschichtetes "Segregationssystem" herrschte, leitete sich die Rechtsstellung der Subjekte aus ihrer jeweiligen konfessionellen Zugehörigkeit ab.
Dabei war die französische Kolonialgesellschaft darum bemüht, die algerischen Juden, die lange vor der Ankunft der Franzosen im Lande lebten, zu assimilieren.
Teils unter dem Einfluss republikanisch-liberaler Ideen und teils, um einen Keil in die altansässige Bevölkerung zu treiben, verlieh das "Crémieux-Dekret" 1870 den algerischen Juden - wie auch den europäischen Siedlern - die vollen französischen Bürgerrechte.
Dagegen wurden die 85 Prozent der Bevölkerung, die aus Arabern und Berbern bestanden, in einem Zustand weitgehender Rechtlosigkeit gehalten.
Der Maghreb als Heimat der Muslime und Juden
Nicht nur die Mehrzahl der in Frankreich lebenden "arabischen" Immigranten, von denen in Wirklichkeit die meisten berberischer Herkunft sind, sondern auch gut 60 Prozent der französischen Juden und Jüdinnen kommen aus Nordafrika.
Denn die Spaltungspolitik der französischen Kolonialmacht hatte zur Folge, dass ein wachsender Teil der dortigen Gesellschaften im 20. Jahrhundert die dort vorher integrierten Juden als eine Art "Fremdkörper" zu betrachten begann, der mit den europäischen Herren im Bund stehe. Deshalb verließ der überwiegende Teil der Juden nach 1950 Algerien, Marokko und Tunesien.
Diese alten Bruch- und Spaltungslinien treten heute wieder hervor. Unter dem Druck der sozialen Krise ebenso, wie durch die vielfach auf den Immigranten lastenden Diskriminierungen und Benachteilungen.
Bernhard Schmid, © Qantara.de 2004