Feministinnen fordern zivilgesellschaftliche Handlungsräume ein
Die Realität war selbstverständlich viel komplexer. Nicht nur in Tunesien hatten sich Frauen schon seit mehr als einem Jahrhundert im Kampf für sozialen Wandel, Gleichberechtigung und Demokratie eingesetzt. In den letzten Jahren ist jedoch eine Generation von Frauen aktiv, die sich in diesem Kampf neuer Methoden bedient.
Seit der Revolution von 2011 haben Frauen öffentliche Räume erobert, um sich zu organisieren und für zivilgesellschaftliche Ziele einzusetzen. Die reine Existenz "eines öffentlichen Platzes, Parks oder anderer Räume, die zivilgesellschaftliche Räume zu sein scheinen", um mit Mike Douglass' Worten zu sprechen, sind jedoch "nicht notwendigerweise ein Hinweis darauf, dass der Zivilgesellschaft die Möglichkeit gegeben wird, sich in den politischen Diskurs oder Handlungsraum einzubringen".
Diktaturen in Tunesien, Ägypten, Libyen und anderen Ländern der Region haben gezeigt, dass der Staat oder staatlich-privatwirtschaftliche Akteure zivilgesellschaftliche Handlungsspielräume kolonisieren können. Damit dieser Raum der Zivilgesellschaft effektives Handeln ermöglicht, muss er jedoch demokratisch sein.
Zivilgesellschaftliche Handlungsspielräume sind in Tunesien überwiegend männlich dominiert, während Frauen unter dem Eindruck erstarkender islamischer Werte und Bräuche, wie der Verschleierung, zur vermeintlichen Wahrung tunesischer Kultur und Moral nach Jahrzehnten der Kolonialherrschaft in die Rolle reiner "Objekte des Kampfes" zurückgedrängt werden.
Doch die Frauen Tunesiens wehren sich gegen ihre Diskriminierung, bestehen auf ihre Rechte und wollen die Transformation von "Objekten des Kampfes" zu "Subjekten mit eigener Stimme". Seit dem frühen 20. Jahrhundert spielen Frauen eine wesentliche Rolle bei der Organisation zivilgesellschaftlichen Widerstands. In den Dreißigerjahren waren sie Teil der Unabhängigkeitsbewegung, hielten Proteste ab und unterschrieben Petitionen. In den Fünfzigerjahren waren Frauen aktiv am Befreiungskampf beteiligt, den sie unter anderem logistisch unterstützten.
Wendepunkt 13. August 1956
Der Wendepunkt kam für Tunesierinnen jedoch am 13. August 1956 mit der öffentlichen Bekanntgabe des "Gesetzesbuchs über den persönlichen Status", einer Reihe progressiver Gesetze, die die Institutionalisierung der Gleichberechtigung von Frau und Mann voranbrachte, zum Beispiel durch die Abschaffung von Polygamie und die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Frauen erhielten außerdem das Recht auf einen eigenen Pass, ein Bankkonto und sogar Geschäfte zu eröffnen. In der Region gelten Tunesierinnen seitdem als unabhängig und emanzipiert.
Dieses Image wurde von beiden vorangegangenen Präsidenten zum Aufbau einer demokratischen Fassade ausgenutzt. Habib Bourguiba (1957–1987) präsentierte der Welt das Bild einer säkularen Republik inmitten islamischer Monarchien und Militärdiktaturen. Auch das "Gesetzesbuch über den persönlichen Status" war ein Symbol "unterdrückter Fortschrittlichkeit": So verbesserte sich damit zwar der Status der Frau, doch nur zu Bourguibas Bedingungen. Der Dank für die Emanzipation der Frauen sollte dem angeblich feministischen Staat und Staatsmann Bourguiba allein gelten, der den Frauenrechtskampf überwachte und seine Erfolge für sich beanspruchte.
Die Darstellung Tunesiens als ein Land, das ganz vorne im Kampf um Frauenrechte mit dabei ist, wird aber ausgerechnet von offiziellen Statistiken infrage gestellt. Dem "National Office for Family and Population" (ONFP) zufolge sahen sich zum Beispiel fast 50 Prozent aller Tunesierinnen schon einmal einer Form von Gewalt ausgesetzt. Außerdem gaben in einer Studie, die das "Center for Research Studies", "Documentation and Information on Women" (CREDIF) von 2011 bis 2015 durchgeführt hat, 53,5 Prozent der befragten Frauen an, schon mindestens einmal körperliche oder psychische Gewalt in der Öffentlichkeit erlebt zu haben.
All diesen Herausforderungen zum Trotz verweist die wachsende Anzahl von Frauen, die sich zivilgesellschaftlich engagieren, auf ein stärker werdendes Bewusstsein für ihre Möglichkeiten der Einflussnahme auf das politische System und Eroberung zivilgesellschaftlicher Handlungsspielräume. Die Methoden, derer sich Frauenrechtlerinnen bedienen, sind vielfältig. Nachfolgend möchte ich vier davon vorstellen.
Besetzung öffentlicher Räume
Frauen haben religiösen, historischen und traditionellen Konstrukten der Geschlechtertrennung – und speziell männlicher Exklusivität – den Kampf angesagt. So betreten sie beispielsweise Orte, an denen für gewöhnlich nur Männer verkehren, wie Kaffeehäuser. Erwähnenswert ist auch, dass sich im Jahr 2013 sehr viele Frauen der Trauerfeier des ermordeten populären Politikers Chokri Belaïd auf dem Friedhof anschlossen haben. Die Teilnahme an diesen Zeremonien ist nach islamischer Tradition Männern vorbehalten.
Außerdem hat sich die Straßenkunst als kraftvolle Form des Ausdrucks und des Widerstandes erwiesen. Feryel Charfeddine hat Graffiti als Waffe gewählt, um zivilgesellschaftlichen Handlungsspielraum einzufordern und war die erste Frau, die unter dem autoritären Regime ihren Graffiti-Tag an den Wänden von Tunis hinterließ. Sie war im Jahr 2012 Mitbegründerin der Graswurzelbewegung "Zwewla" (tunesisch-arabischer Dialekt für "die Armen"), deren Mitglieder sich der Graffiti- und Wandbildkunst sowie Musik bedienen, um die Realität der einfachen Arbeiterklasse ("Zwewla") zu thematisieren und sich für ihre Rechte einzusetzen. "Wir spiegeln die Realität der 'Zwewla' wider und stärken das Bewusstsein für marginalisierte Gruppen mit Graffiti in den Straßen und öffentlichen Räumen, wo marginalisierte Menschen leben", erklärt Charfeddine.
Frauen müssen, um Kunst zu schaffen oder zu genießen, viele Hindernisse überwinden, wie patriarchalische Strukturen, Rassismus, Elitismus und Bildungsarmut. Daher ist es wichtig Initiativen zu schaffen, die inklusiv, also für alle offen sind. Straßenkunst ist so eine Initiative, denn alle Menschen können sich daran beteiligen, auch wenn nur mit einer Reaktion beim Vorbeigehen oder durch Hinzufügen von Linien. "Als ich zum ersten Mal einen Tag hinterließ, war das meine Reaktion auf den Mangel an öffentlichem Raum, der Frauen draußen zur Verfügung steht um sich frei auszudrücken. Früher war die Diktatur das Problem, heute ist es die Übermacht des islamischen Diskurses", sagt Charfeddine.
Bewusstseinsbildung und Dialog
Es ist der Beteiligung der Frauenbewegung sowie politischen, sozialen und zivilgesellschaftlichen Gruppen zu verdanken, dass das Ergebnis der politischen Übergangsphase eine der fortschrittlichsten Konstitutionen der Region war, die Frauen viele Rechte gesetzlich sicherte. Nach dem Prinzip "Sprich mit denen, die anders denken" ließen sich Feministinnen während des Entwurfsprozesses auf die Debatte mit islamisch-konservativen Gegnern ein und konnten so erreichen, dass auch diese am Ende für die Geschlechtergleichheit in der Verfassung stimmten.
So wurden zum Beispiel Veranstaltungen organisiert, die Frauenrechtlerinnen mit VertreterInnen aus Zivilgesellschaft, Politik und Parlament an einen Tisch brachten, um Gleichberechtigung als fundamentales Prinzip für die Konstitution zu diskutieren. Dank dem Engagement lokaler Frauengruppen, die sicherstellten, dass die Zivilgesellschaft am Entwurfsprozess beteiligt war, wurde am 26. Januar 2014 eine Verfassung verabschiedet, die als eine der fortschrittlichsten der Länder in politischer Transition des südöstlichen Mittelmeerraums angesehen wird, besonders in Sachen bürgerlicher Freiheiten.
Direktes Eingreifen
Das direkte Eingreifen, sozialgeschichtlich auch direkte Aktion genannt, ist ein weiteres Mittel, dessen sich die Frauenbewegung in Tunesien im Ringen um die Gleichstellung bedient hat, besonders in Form von Demonstrationen. Am 13. August 2013, dem Nationalen Frauentag und Jahrestag der Proklamation des "Gesetzesbuchs über den persönlichen Status", versammelten sich Frauenaktivistinnen zu einer riesigen Demonstration auf den Straßen. Grund war die Verweigerung Islamisch-Konservativer zum Dialog über den damaligen Entwurf der neuen Konstitution.
Der 13. August sollte also in jenem Jahr kein Tag zum Feiern, sondern zum zivilgesellschaftlichen Handeln im Kampf um die garantierte Gleichstellung der Geschlechter werden. Mit ihren Stimmen und Plakaten forderten die Frauenrechtlerinnen die Überarbeitung des Entwurfs, für den im Parlament sogar einige der 59 weiblichen Mitglieder (42 davon von der konservativ-islamischen Ennahda-Partei) von insgesamt 217 Mitgliedern gestimmt hatten.
Im Entwurf hieß es: "Der Staat schützt die Rechte und Errungenschaften der Frauen nach dem Grundsatz der Komplementarität mit Männern im Rahmen der Familie und in ihrer Partnerschaft mit Männern bei der Entwicklung des Heimatlandes". Der Text beschwor die Idee, Geschlechterrollen seien "komplementär", und drohte somit das Prinzip der Gleichheit von Männern und Frauen zu entkräften.
Es ist dem Eingreifen jener Feministinnen zu verdanken, die es an dem Tag schafften, die Massen trotz realistischer Befürchtungen von Polizeigewalt und Belästigungen zu mobilisieren, dass Artikel 46 der Konstitution heute festsetzt: "Der Staat verpflichtet sich, die bestehenden Rechte von Frauen zu schützen und setzt sich für die Stärkung und Entwicklung jener Rechte ein." Er garantiert außerdem "Chancengleichheit für Frauen und Männer beim Zugang zu allen Verantwortungsebenen in allen Bereichen" und die "Eliminierung jeglicher Formen von Gewalt gegen Frauen".
Wann und wo auch immer es nötig ist, werden Frauenrechtlerinnen auch weiterhin marschieren, protestieren und stören, ob in Form verstreuter, organisch erwachsender Veranstaltungen oder organisiert von der "Association Tunisienne des Femmes Démocrates" (ATFD) und "Association des Femmes Tunisiennes pour la Recherche sur le Développement" (AFTURD). Sie lehnen die Verwässerung ihrer Rechte und den Verlust zivilgesellschaftlicher Handlungsspielräume ab und machen der Regierung Druck, sich dringlichen Themen wie der Wirtschaft, deren Zustand einer der Hauptgründe für den Ausbruch der Revolution war, zuzuwenden.
Solidarität und Zusammenarbeit
Solidarität und Zusammenarbeit bilden die Konturen von Tunesiens Frauenbewegung. Hier hat die Erfahrung nämlich gezeigt, dass die Eroberung zivilgesellschaftlicher Handlungsspielräume in islamisch geprägten Ländern vor allem dann gelingt, wenn sich Feministinnen mit anderen gesellschaftlichen Bewegungen zusammentun, die sich beispielsweise in den Gebieten Arbeiterrechte und Gewerkschaften, Minderheitenrechte und Klimawandel engagieren. Auf diese Weise werden Frauenthemen mit allen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens verknüpft.
Die Niederlage der konservativ-islamischen Ennahda-Bewegung in den allgemeinen Wahlen von 2014 war zum Beispiel vor allem deswegen möglich, weil die öffentliche Debatte über Frauenrechte weite Teile der Gesellschaft ergriffen hatte. Über eine Million Frauen entschieden sich, für ihre Überzeugung in Bezug auf Frauenrechte zivilgesellschaftlichen Handlungsraum einzufordern und gegen Ennahda zu stimmen. Der Kampf um die Gleichstellung der Geschlechter sollte deshalb eng mit anderen gesellschaftlichen, politischen und menschenrechtlichen Problematiken verbunden sein.
Tunesierinnen haben auf gesetzlicher und politischer Ebene bemerkenswerte Erfolge erzielen können. Frauenrechtsorganisationen haben eine bedeutende Rolle beim Verfassen der neuen tunesischen Konstitution und Reform des Wahlrechts gespielt und konnten so zu größerer vertikaler und horizontaler Gleichstellung beitragen.
Ganz egal welcher Mittel Tunesierinnen sich bedienten, als sie sich den Herausforderungen der politischen Übergangsphase stellten: unsere Bewegung hat es geschafft, den Schwund zivilgesellschaftlicher Handlungsspielräume umzukehren und konservativ-islamischen Gegnern fortschrittlicher Gesetzgebung die Stirn zu bieten. Auch in politisch brisanten Zeiten, wie bei Wahlen, hat Tunesiens widerstandsfähige Frauenbewegung eine möglichst weitreichende Partizipation, solidarisches Handeln und Intersektionalität bei der Eroberung von bürgerlichen Handlungsräumen garantiert.
Aya Chebbi
© Goethe-Institut e. V./Perspektiven 2019
Übersetzung: Jana Duman
Aya Chebbi ist eine mehrfach ausgezeichnete, panafrikanische Feministin. Sie ist die erste Jugendbeauftragte der "Afrikanischen Union" und die Jüngste der DiplomatInnen im Kabinett des Vorsitzenden der "Kommission der Afrikanischen Union". Sie ist Gründerin mehrerer Plattformen, wie des "Youth Programme of Holistic Empowerment Mentoring" (Y-PHEM), welches die nächste Generation zu AkteurInnen positiven Wandels ausbildet, des "Afrika Youth Movement" (AYM), einer der größten panafrikanischen, jugendgeführten Bewegungen Afrikas, und "Afresist", eines Jugendführungsprogramms und Multimediaplattform zur Dokumentation von Jugendarbeit in Afrika.