Das Recht auf den Schleier schützen
Frankreichs Initiative, den Hijab und andere „auffällige“ religiöse Symbole in staatlichen Schulen zu verbieten, stieß in Großbritannien auf heftigen Protest. Menschenrechtsaktivisten und Politiker bezeichneten den Bann als völlig unmoralisch.
Die Stellungnahme von Londons Bürgermeister Ken Livingstone fiel besonders harsch aus. Er warf Frankreichs politischer Elite vor, faschistischen Ideologen in die Hände zu spielen.
"Präsident Jacques Chirac treibt ein schrecklich gefährliches Spiel, wie es schon viele Politiker in den 20er Jahren getan haben, als sie glaubten, mit Hitler anbändeln zu können", sagte Livingstone kürzlich auf einem Protestmarsch gegen den Kopftuchbann. "Das Verbot sei eine anti-muslimische Maßnahme, die den Druck auf Muslime erhöhen würde, so Livingstone.
Mike O‘Brien, Minister im britischen Außenministerium, sagte, die britische Regierung unterstütze das Recht aller, religiöse Symbole zu tragen. "In Großbritannien haben wir kein Problem mit dem Ausdruck von Religion. Integration ist ohne Assimilation möglich."
Verschiedene Kopftuchmodelle für die Polizei
Dieses interkulturelle Verständnis ist zumindest bei der Kleiderordnung der Londoner Polizei erkennbar. Die englische Tageszeitung "The Guardian" berichtet, dass als Teil der Initiative "Protect and Respect: Everybody Benefits" ("Schütze und respektiere: Jeder profitiert davon") muslimische Frauen die Möglichkeit haben, im Polizeidienst ein Kopftuch zu tragen. Dabei stehen vier verschiedene Kopftuch-Modelle in den Farben der Londoner Polizei zur Auswahl.
"Wir wissen, dass viele muslimische Frauen, die gerne Polizistinnen geworden wären, durch den Gedanken abgeschreckt wurden, im Dienst den Hijab nicht tragen zu dürfen", zitiert die Zeitung Mahammad Mahroof von der "Association of Muslim Police". "Wir erhoffen uns von dieser Regelung, dass sich mehr Musliminnen dadurch ermutigt fühlen, in den Polizeidienst einzutreten."
Das französische Kopftuchverbot wird in Großbritannien von vielen missbilligt - und das nicht nur von muslimischen Aktivisten. Anaf Altikriti, Präsident der "Muslim Association", beschreibt, dass eine Vielzahl religiöser Glaubensgruppen in Großbritannien von der französischen Politik beunruhigt sind.
"Wenn dieser Bann zu etwas führt, dann vor allem dazu, dass sich Gemeinschaften im Untergrund bilden, die sich entrechtet, isoliert, verärgert und bedrückt fühlen," sagt Altikriti. "Der Bann wird dazu führen, dass Frauen nicht zur Schule gehen, somit keine Ausbildung erfahren und in 20 oder 30 Jahren dazu gezwungen sind, Nebenjobs auszuüben und sich in ihrer Rolle nicht wohl fühlen. Das kann nur zu Problemen in der Gesellschaft führen."
Angst vor Übergriffen auf Muslime
Abeer Pharaon, Präsidentin der "Muslim Women Society", sagt: "Trotz der ermutigenden Stellungnahmen der Regierung sind wir immer noch sehr besorgt, dass die rapide Ausbreitung einer solchen Gesetzgebung in Europa dazu führen könnte, dass in Großbritannien Extremisten und Faschisten muslimische Frauen zunehmend beleidigen und angreifen." Dabei ist der Hijab "unser Recht, unsere Freiheit und unsere Wahl", so Pharaon.
Doch Großbritannien beschäftigt nicht nur die Frage, nach der Legitimität eines solchen Banns. Britische Anwälte halten das Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst zudem für illegal. Rechtsanwalt Ahmad Thomson, stellvertretender Vorsitzender der britischen "Association of Muslim Lawyers" sagt, dass die Franzosen mit dem Verbot gegen eigene Gesetze verstoßen.
Grund: Als Unterzeichner der Europäischen Menschenrechtskonvention habe sich Frankreich dazu verpflichtet, Religionsfreiheit zu gewährleisten, bzw. zu garantieren, dass jede Religion frei praktiziert und gelehrt werden darf.
Verbot widerspricht Menschenrechten
"Niemand, der einen Hijab trägt, bedroht dadurch andere oder schränkt damit Rechte und Freiheiten anderer ein", sagte Thomson. "Es macht in einer demokratischen Gesellschaft keinen Sinn, das Tragen von Kopftüchern zu verbieten - weder im Interesse der öffentlichen Sicherheit, zum Schutze der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit, der Moral oder zum Schutze der Freiheitsrechte anderer."
Ein Verbot sei ebenso wenig vereinbar mit den Protokollen des Europäischen Rates für Menschenrechte (ECHR): Dort wird garantiert, das jeder das Recht hat, dass seine Kinder eine Ausbildung genießen, die im Einklang mit dem eigenen religiösen Glauben stehen, erklärt Thomson.
Kein Gesetz gegen Diskriminierung von Religionen
Interessanterweise gibt es in Großbritannien Gesetze gegen verschiedenste Formen von Diskriminierung – ausgenommen: die Diskriminierung einer Religion. Der sogenannte "Race Relations Act" von 1976 verbietet bestimmte Formen der Diskriminierung im Job, bei der Ausbildung und in Bezug auf die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen.
Im Arbeitsalltag deckt dieses Gesetz Diskriminierung auf Grundlage von Rasse, Hautfarbe, Nationalität bzw. ethnischer oder nationaler Herkunft ab. Es schützt auch einige religiöse Gruppen, nicht aber alle Religionen per se.
Zurzeit haben also weder England, Wales noch Schottland eine klare Gesetzeslage, auf deren Grundlage sich religiöse Diskriminierung verbieten ließe. In Nordirland sind allerdings religiöse Diskriminierungen am Arbeitsplatz seit 1976 gesetzlich verboten.
Diese Gesetzgebung wurde vor dem Hintergrund des Konfliktes zwischen Katholiken und Protestanten speziell zum Schutze direkter und indirekter Diskriminierung aus religiösen und/oder politischen Überzeugungen eingeführt.
Der "Race Relations Act" von 1976 wurde auch schon genutzt, um Angestellte und Bewerber religiöser Minderheitengruppen, die aufgrund ihrer Religion direkt oder indirekt diskriminiert wurden, zu schützen.
Aus gerichtlichen Präzedenzfällen abgeleitet, gelten bestimmte religiöse Gruppen zugleich auch als "ethnische Gruppen". Sie fallen damit unter die Definition des "Race Relations Act" und genießen somit Schutz vor Diskriminierung. Zu diesen religiösen Gruppen gehören z.B. Juden und Sikhs.
Angehörige dieser Gruppen können Beschwerden gegen rassistische Diskriminierung vorbringen, wenn sie nachweisen können, dass die von ihnen erfahrene Benachteiligung mittelbar oder unmittelbar mit der Zugehörigkeit zu ihrer Religion zusammenhängt.
Muslime ungeschützt
Es gibt allerdings religiöse Gruppen, die laut britischem Gesetz nicht als Rasse definiert werden und nicht automatisch durch den "Race Relations Act" geschützt sind. Dazu gehören Rastafaris und Muslime.
Im Juni 2003 hat ein Ausschuss des britischen Oberhauses ("The House of Lords Select Committee on Religious Offences") eine detaillierte Analyse der Gesetzeslage zur religiösen Diskriminierung vorgelegt.
Der Vorsitzende des Ausschusses, Viscount Colville von Culross, kam dabei zu folgendem Schluss: "Nach ausgiebigen umfassenden Konsultationen haben wir die Vorzüge aller Optionen analysiert, denken aber, dass letztendlich das Parlament als Ganzes über den weiteren Fortgang entscheiden sollte."
"Religionen spielen in unserer Gesellschaft eine zentrale Rolle und daher sollte jeder Glauben zu einem gewissen Grade Schutz genießen", so Culross weiter.
"Allerdings sind wir uns nicht darüber einig, wie dieser Schutz im Speziellen aussehen könnte. Zwar gibt es Handlungsbedarf bezüglich der Anstiftung zu religiösem Hass. Aber ein Gesetz zur Behandlung dieses Themas würde wohl zu tiefgreifenden Kontroversen führen."
"Deine Religion ist ein Witz…!"
Allerdings könnte ein solches Gesetz nötig sein. Großbritannien scheint Frankreichs Kopftuchverbot gegenüber zwar größtenteils abgeneigt zu sein. Dennoch erleben die Briten möglicherweise zurzeit ein extremes Beispiel "erzwungener Assimilation" im eigenen Land.
Hazel Dick, 43, eine Lehrerin aus Peterborough, Cambridgeshire, muss sich vor Gericht gegen den Vorwurf verantworten, einer 15jährigen muslimischen Schülerin "mit Gewalt" das Kopftuch vom Kopf gerissen zu haben und zugleich "Feindseligkeit gegen die Religion" der Schülerin demonstriert zu haben. Nach Zeugenaussagen soll die Lehrerin dem Mädchen dabei eine "zwei Zentimeter" tiefe Kratzwunde am Hals zugefügt haben.
Der Jury wurde mitgeteilt, dass der mutmaßliche Angriff vom März letzten Jahres an der "Bretton Woods"-Gemeinschaftsschule erfolgte, nachdem die Schülerin aufgefordert worden war, das Kopftuch abzulegen, da dieses Kleidungsstück nicht der korrekten Schuluniform entspräche.
Laut Staatsanwalt wurde Hazel Dick wütend und riss "das Kopftuch mit Gewalt vom Kopf der Schülerin". Die Nadeln hätten sich daraufhin gelöst und die Kratzwunde am Hals verursacht. Obwohl die Wunde nicht gravierend wäre, würde es sich dennoch um Körperverletzung handeln.
Die Lehrerin habe daraufhin in beleidigender und feindseliger Weise über die Religion des Mädchens gesprochen. Der Staatsanwalt zitierte einen Schüler, der angab, gesehen zu haben, wie die Lehrerin wütend wurde und gesagt habe: "Nun, deine Religion ist ein Witz...meine Schuhsole hat mehr Bedeutung als Allah!"
Hazel Dick bestreitet dagegen, die Schülerin vorsätzlich aus religiösen Gründen angegriffen zu haben. Sie teilte der Polizei mit, sie habe weder das Kopftuch vom Kopf des Mädchens gerissen, noch beleidigende Äußerungen über den Islam gemacht. Das Urteil in diesem Prozess wird in Großbritannien mit Spannung erwartet.
Tareq Al-Arab © Qantara.de 2004