Infiltriert, aber strategisch überlegen

Ein Junge begutachtet die Schäden an einem Gebäude nach einem israelischen Angriff im libanesischen Dorf Akbieh.
Zunehmend auch im Libanon: Kriegsspuren im Dorf Akbieh im Süden des Landes. Foto: picture alliance / AP | Mohammed Zaatari

Die Hisbollah mag von Israel unterwandert sein, aber besiegt ist sie noch lange nicht. Ihre wirklich schlagkräftigen Raketen könnten erst noch zum Einsatz kommen. Wer verhindern will, dass die Situation völlig außer Kontrolle gerät, muss den Blick auf Gaza richten.

Von Karim El-Gawhary

Auf den ersten Blick sieht es für die Hisbollah im Libanon nicht gut aus: Zwar ist die schiitische Miliz noch lange nicht besiegt, aber taktisch ist sie derzeit unterlegen. Zunächst gelang den israelischen Geheimdiensten mit manipulierten Pagern und Funkgeräten ein Schlag gegen das Kommunikationssystem der Hisbollah. 32 Menschen wurden getötet und tausende verletzt, nicht nur Hisbollah-Mitglieder. Es war ein Angriff auf die Intimsphäre der Miliz, mit entsprechendem psychologischem Effekt.

Begleitet wurde dies von der gezielten Tötung hochrangiger Hisbollah-Kommandeure. Israel hat die so sehr um Geheimhaltung bemühte Miliz offensichtlich unterwandert. Die Geheimdienste scheinen im Besitz interner Informationen zu sein, mit denen es Israel gelingt, gezielt vor allem gegen die militärische Führung der Hisbollah vorzugehen.

Das ist qualitativ der wichtigste Unterschied zum letzten großen Schlagabtausch zwischen der Hisbollah und der israelischen Armee 2006. Zwar hatte Israel auch damals bereits die technologisch wohl ausgeklügelsten Spionage-Systeme weltweit. Es war der erste Krieg, in dem etwa Aufklärungsdrohnen eine wichtige Rolle spielten. Doch 2006 fehlte es Israel noch an human intelligence, also an direkter Spionage in den Rängen der Hisbollah vor Ort. Dies war ein Grund dafür, dass die israelische Armee während ihrer Bodenoffensive vom heftigen Widerstand überrascht wurde. 

Die Hisbollah hält sich offenbar zurück

Für die Hisbollah ist die Infiltration ihrer eigenen Ränge heute einer der größten Schwachpunkte. Dies führt so manchen Beobachter dazu, die Schwäche auf das militärische Potential der Miliz zu übertragen. Doch hier ist die Bewertung schwierig: Warum beispielweise ist der große Hisbollah-Raketenschlag auf Israel bisher ausgeblieben – trotz des enormen Drucks, der aktuell auf der Organisation lastet? 

Bislang hat die Hisbollah für ihre Angriffe auf Israel meist relativ unpräzise Katjuscha-Raketen mit geringer Sprengkraft eingesetzt, die nicht weit reichen. Nur in wenigen Fällen hat sie Raketen mit höherer Genauigkeit und großer Sprengkraft verwendet, meist um militärische Ziele in Haifa oder sogar Tel Aviv anzugreifen. Diese Raketen konnten überwiegend von der israelischen Raketenabwehr abgefangen werden.

Warum setzt die Hisbollah nicht ihr volles Potential ein, das auf zehntausende Raketen mit hoher Sprengkraft geschätzt wird? Wurde das Raketenarsenal von westlichen Geheimdiensten überschätzt? Oder ist es Israel, wie von israelischer Seite behauptet, bereits in den vergangenen Tagen durch massive Bombardierung der Hisbollah-Hochburgen im Südlibanon und der Bekaa-Ebene gelungen, einen großen Teil des Arsenals zu zerstören? 

Plausibel ist vielmehr eine dritte Erklärung: Möglicherweise hält die Schiiten-Miliz ihre Raketen momentan noch bewusst zurück, was auf strategische Erwägungen zurückgehen könnte. Denn Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu begründet die jüngste Eskalation im Libanon mit seinem Kriegsziel der Rückkehr von rund 60.000 israelischen Zivilisten nach Nordisrael, die vor fast einem Jahr aus grenznahen Orten evakuiert wurden.

Um diesen Plan zu durchkreuzen, muss die Hisbollah nicht zu einem vollumfassenden Raketenschlag ausholen. Aus strategischer Sicht muss sie lediglich zeigen, dass sie langfristig weiter eine Bedrohung für Israel darstellt. Da reicht es, regelmäßig eine begrenzte Anzahl von Raketen abzufeuern. Wichtigstes strategisches Ziel für die Hisbollah wäre in diesem Fall, dass ihr Raketenpotential den Sturm übersteht.

Ein Zeitungsstand im Beiruter Stadtteil Hamra zeigt die Schlagzeilen, während ein Krieg droht.
Im Libanon ist der Krieg in aller Munde – Zeitungskiosk im Beiruter Stadtteil Hamra. Foto: picture alliance / Middle East Images | Courtney Bonneau

Kommt die Bodenoffensive?

Nun steht möglicherweise eine israelische Bodenoffensive unmittelbar bevor. Als 2006 das letzte Mal israelische Soldaten in den Libanon einmarschierten, hatte Israel zunächst verkündet, die Hisbollah zerstören zu wollen. Wenige Tage nach Beginn der Offensive hieß es dann nur noch, Ziel sei es, die Miliz zu schwächen ­– was allerdings auch nicht erreicht wurde. Nicht nur ist die Miliz heute stärker hochgerüstet als je zuvor, auch ist ihr politischer Flügel seit 2006 an jeder Regierung in Beirut beteiligt gewesen. Die Hisbollah hat ihre Position als Staat im Staat ausgebaut. 

Sowohl die Hisbollah als auch die israelische Armee haben sich seit 2006 auf eine weitere Invasion vorbereitet. Sollte es jetzt tatsächlich wieder zu einer Bodenoffensive kommen, würde entscheidend sein, wie viel die israelische Armee über die Vorbereitung der Hisbollah weiß. Wenn sie ähnlich gut darüber informiert ist wie über den Aufenthalt der Hisbollah-Kommandeure, hat sie diesmal möglicherweise bessere Karten.

Aber was würde Israel mit einer Bodenoffensive strategisch gewinnen? Die Armee kann durch Besetzung libanesischer Gebiete kaum eine Pufferzone schaffen, die groß genug ist, um zu verhindern, dass Hisbollah-Raketen mit größerer Reichweite weiterhin Israel erreichen. 

Das gilt auch für den unwahrscheinlichen Fall, dass Israel die Hisbollah militärisch so stark unter Druck setzt, dass diese am Verhandlungstisch zustimmt, sich hinter den Litani-Fluss zurückzuziehen. Der parallel zur Grenze verlaufende Fluss im Südlibanon liegt bis zu 30 Kilometer von der Grenze entfernt. Die UN-Resolution 1701 fordert bereits seit 2006 einen solchen Rückzug der Hisbollah, doch weder die Hisbollah noch Israel, das seitdem zehntausende Male den libanesischen Luftraum verletzt hat, sind den Forderungen nachgekommen. 

Der Weg führt über Gaza

Bleibt die Frage nach einem Ausweg. Netanjahus Ansatz, das Ende des Hisbollah-Raketenbeschusses durch Eskalation erzwingen zu wollen, ist offensichtlich eine strategische Fehlkalkulation. Der Weg zum Ende des Krieges im Libanon führt über den Gazastreifen. Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah hat im vergangenen Jahr immer wieder betont, dass die Angriffe auf Israel als Reaktion auf den Krieg in Gaza erfolgen. Er wolle Druck ausüben, damit Israel seine militärische Offensive im Gazastreifen stoppt.

Ein Ende des Gazakriegs würde also auch den Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah beenden. Der Schlüssel zur Deeskalation, die für die gesamte Region dringend nötig ist, liegt in Verhandlungen über einen Waffenstillstand in Gaza sowie einem Austausch israelischer Geiseln gegen palästinensische Gefangene.

Eine solche Vereinbarung ist die Grundvoraussetzung, um an allen Fronten Ruhe zu schaffen und der internationalen Gemeinschaft die Möglichkeit zu geben, sich endlich langfristigen Lösungen für die Palästinenserfrage und den Nahostkonflikt zu widmen. Doch momentan sind wir davon meilenweit entfernt – und noch schlimmer: Statt den Brand zu löschen, wird täglich mehr Öl ins Feuer gegossen.