"Erasmus in Gaza"
Riccardo, Medizinstudent aus Siena, plant einen Erasmus-Aufenthalt. Aber er will nicht nach Barcelona, Krakau oder Berlin. Sein Studienort ist ungewöhnlich: Gaza Stadt. Mal abgesehen davon, dass es Erasmus nur in EU-Mitgliedsländern gibt und es hier als Chiffre für einen studentischen Auslandsaufenthalt steht. Ist das vielleicht alles nur ein ausgeklügelter Plan, um einen kontrastreichen Plot abzudrehen? Italienischer Medizinstudent geht nach Gaza, trifft statt auf Erasmus-Partyleben auf eine Kulisse aus Elend, Krieg und Krise, um dann als mutiger Held nach Italien zurückzukehren?
So ist dieser Film nicht – zum Glück. Denn er stellt nicht nur Riccardo, sondern die Menschen, die er bei seinem Auslandsstudium trifft, in den Mittelpunkt: Die jungen Medizinstudenten (es sind zunächst ausschließlich Männer, an der Islamischen Universität, seiner Uni, gibt es eine Geschlechtertrennung), seine Mitbewohner, die Professoren und Ärzte – und schneller als Riccardo denkt, auch die Patienten. Denn anders als in Italien, wo er bis zum Abschluss kaum praktische Erfahrungen sammeln kann, beginnt der Kontakt mit den Patienten hier bereits früh im Studium.
An der Islamischen Universität, die als konservative, aber auch wissenschaftlich beste Institution im Gazastreifen gilt, wird er begeistert empfangen: Er sei der erste Student aus Europa, man hoffe es kämen noch viele weitere. Riccardo wird von der Lokalpresse interviewt und von seinen Kommilitonen neugierig beäugt. Ein Studentenaustausch – eigentlich das normalste von der Welt. Aber nicht für Gazas Studierende – obwohl es in dem schmalen Küstenstreifen mit 17 Universitäten und höheren Bildungseinrichtungen und allein fast 20.000 Studierenden an der Islamischen Universität viel Bedarf gäbe.
Aber Bildung ist hier weniger eine Chance, um Karriere im eigenen Land zu machen. Jobaussichten gibt es kaum. Eher ist Bildung eine Chance, den Gazastreifen zu verlassen. Aber selbst ein Stipendium aus dem Ausland ist kein Garant dafür, aus Gaza herauszukommen. Das hängt ausschließlich an der Willkür der israelischen Besatzungsbehörde – und der ägyptischen Seite, die in den letzten Jahren ähnlich repressiv agierte. Die israelische Menschenrechtsorganisation Gisha beobachtet die damit verbundene Diskriminierung schon seit vielen Jahren.
Zwischen Naivität und Unvoreingenommenheit
Riccardos Mitbewohner und Gastgeber Adam beschreibt, wie groß sein Wunsch ist zu reisen – auch wenn Gaza seine Heimat ist , die er für die schönen Seiten liebt: "Aus Gaza rauszukommen bedeutet mir alles, für meine Karriere, meine Ausbildung… alles!“ Aber er weiß, wie schwierig das ist. Im Abspann des Films erfahren wir, dass er später ein Stipendium für Italien und auch ein Visum erhielt, aber nicht ausreisen durfte.
Immer wieder schweift die Kamera über den schmalen Küstenstreifen, den Strand und das Meer, es könnte ein Paradies sein. Was für ein Kontrast zur Arbeitsrealität, mit der Riccardo konfrontiert ist. Er will sich auf Notfallmedizin spezialisieren, aber hier werden andere Wunden behandelt als zu Hause in Siena: Es geht vor allem um Schusswunden, die Menschen bei den Protesten an der Grenze zu Israel erlitten haben, und das tausendfach. Denn Riccardo ist genau in jenen Monaten in Gaza, als der so genannte "Great March of Return“ stattfindet.
Riccardo macht keinen Hehl daraus, das für ihn hier alles neu, alles fremd ist. Er kommt mit einer Naivität nach Gaza, die irgendwo zwischen Unvoreingenommenheit und Verantwortungslosigkeit liegt. Hat er sich wirklich überlegt, was er hier überhaupt will? Als es zur erwarteten Konfrontation kommt, Raketenbeschuss von palästinensischen Militanten und israelischen Bombardements, geht er erst ins italienische Kulturzentrum, dann verlässt er den Gazastreifen und geht für eine Woche nach Bethlehem.
Ausländer sind privilegiert
Als Italiener ist er genau so privilegiert wie alle anderen ausländischen Passinhaber in Gaza. Im Gegensatz zu ihm können Palästinenser den Gazastreifen nicht einfach verlassen, wenn es brenzlig wird. Sie können ihn überhaupt nicht verlassen! Riccardo wird diese Ungerechtigkeit bewusst und er leidet darunter. Ändern kann er daran nichts. Und auch wenn er seinen Aufenthalt im Gazastreifen als persönliche Herausforderung und eine Art Selbsterfahrung sieht – ein reiner Ego-Trip ist es nicht, der Wunsch als Arzt zu wirken, ist fest in ihm verankert.
Aber die Brutalität, der er in Form von üblen Verletzungen begegnet, stellt seinen Berufswunsch in Frage: "Ich bin völlig fertig. Wenn mich das immer so mitnimmt, werde ich es nicht aushalten – ist das alles das Richtige für mich?“, fragt sich Riccardo bald. Dann macht ihm seine Bekannte Jumana, die als Übersetzerin für ausländische Journalisten arbeitet, ein Angebot: Sie kenne jemand, bei dem Riccardo im Operationssaal assistieren könne. Für Riccardo eine Chance, die er sofort wahrnimmt.
Der Tag im OP ist für ihn als angehendem Arzt eine besondere Herausforderung, fast wie eine Mutprobe. Ist es moralisch vertretbar, einen unerfahrenen Medizinstudenten hier einzusetzen? Aber die Frage beantwortet sich von selbst, als immer mehr Patienten in der Notaufnahme ankommen: Alle, ausnahmslos alle sind von Scharfschützen ins Bein geschossen worden. Alte, Jugendliche, und sogar Kinder. Riccardo ist sichtlich überfordert, aber er funktioniert."Was I good“ – fragt er hilflos den operierenden Arzt am Ende des Tages.
Viele der Patienten, die er im Gazastreifen sieht, sind so jung wie er oder jünger. Manchen von ihnen wurden Gliedmaßen amputiert. Das zu sehen ist hart, für Riccardo und für die Zuschauer des Films – mit Erasmus-Romantik hat das gar nichts mehr zu tun. Aber es ist gut, dass es gezeigt wird – denn Gaza ist in der Regel nur dann in den Nachrichten, wenn Raketen fliegen und Bomben fallen; mit den lang anhaltenden Folgen, der Traumatisierung, den Verletzungen sind die Menschen weitgehend allein. Geschätzte 25 Prozent der Bevölkerung in Gaza leiden unter psychischen Problemen infolge der anhaltenden Gewalterfahrungen.
Gazas junge Generation: isoliert vom Rest der Welt
Zugleich wird ihnen und ihren Forderungen oft jegliche Legitimität abgesprochen, mit Verweis auf die Hamas, die den Gazastreifen seit 2007 kontrolliert. Aber die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen der Hamas und ihr autoritärer Führungsstil können nicht das Vorgehen der israelische Armee gegen Zivilisten rechtfertigen. Israelische Scharfschützen haben nach UN-Angaben fast 8000 Menschen mit scharfer Munition verletzt, insgesamt wurden bei den Protesten 2019 sogar über 35.000 Menschen verletzt und über 200 getötet.
Unter ihnen waren Journalisten, medizinisches Personal und Kinder - das haben palästinensische, israelische und internationale Menschenrechtsorganisationen ebenso wie die Vereinten Nationen dokumentiert. Humanitäre Organisationen, medizinische Hilfe – sie sind bestenfalls nur Linderung eines politischen Problems. Ein notwendige politische Lösung, die auch ein Aufheben der seit 2007 bestehenden Blockade umfassen müsste, wurde immer wieder proklamiert, aber nie umgesetzt. So bleibt Gazas junge Generation isoliert vom Rest der Welt.
Nach einigen Wochen fühlt sich Riccardo dennoch zu Hause im Gazastreifen. Er hat Freunde gefunden, ein Umfeld, eine Routine, so schwierig sie auch ist. Sein Rumblödeln mit Studienkollege Sadi wird zu einem kleinen Internethit, in Gaza ist er eine lokale Berühmtheit. Als es erneut zum Ernstfall israelischer Angriffe kommt, bleibt Riccardo vor Ort, öffnet alle Fenster in der Wohnung , damit niemand von Glassplittern getroffen wird, sucht mit seinen Freunden Schutz im Keller – Alltag im Gazastreifen. Er hat Angst, aber die Angst ist kein Privileg des Ausländers. Alle haben jetzt Angst – und nur eine Straße weiter wird ein Haus dem Erdboden gleichgemacht. Es bleiben nur das Warten und die Hoffnung auf Überleben. Als die Bombardierungen vorbei sind, feiern die Freunde eine Party.
Dann endet Riccardos Erasmus-Austausch, er geht zurück nach Siena. Dort besteht er seine Abschussarbeit zum Thema "Explosive Bullets“ mit Bravour, und beginnt in der Notaufnahme zu arbeiten. Sein "Coming of Age“ ändert nichts an der Realität im Gazastreifen. Was hat sein Erasmus-Aufenthalt gebracht? Die Antworten stehen aus. "Erasmus in Gaza“ ist ein sehenswerter Film über individuelle Lebensentscheidungen, Privilegien und eine junge und talentierte Generation im Gazastreifen, der alle Zukunftschancen verwehrt werden.
"Erasmus in Gaza" von Chiara Avesani & Matteo Delbò. Der Film wird auf dem Human Rights Film Festival Berlin am 22.Oktober nochmals gezeigt.