Arrangierte Zugehörigkeiten in der Einwanderungsgesellschaft
Dass die gesellschaftliche Realität in Deutschland durch Konsequenzen der Ein- und Auswanderung geprägt ist, ist mittlerweile gesellschaftlich unbestritten. Davon zeugen politische Aussagen wie die der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung Maria Böhmer, die erst vor kurzem erklärte: "Deutschland ist heute ein Einwanderungsland."
Dass die Frage nach legitimen Zugehörigkeiten, einem symbolischen "Wir" und "Nicht Wir", einem Entweder-Oder umso umstrittener ist, erfahre und beobachte ich als eine deutsch-türkische muslimische Bürgerin in Deutschland auf vielfältige Weise. Infolgedessen finde ich mich tagtäglich in Situationen wieder, in denen ich meine Zugehörigkeit rechtfertigen oder zurechtbiegen muss, um dazuzugehören und möglichst barrierefrei am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können.
Hoher Verhandlungsdruck im Alltag
Im Alltag arrangiere ich mich bei der altbekannten Frage nach meinen ethnischen Wurzeln, indem ich über meine deutsch-türkische Herkunft Auskunft gebe und im gleichen Atemzug meinen Gesprächspartner nach seiner ethnischen Herkunft und nach der seiner Eltern sowie Großeltern befrage.
Die Reaktion meines Gesprächspartners erfolgt in den meisten Szenarien nach Sekunden der Verwirrung entweder mit einer Urlaubsanekdote aus der schönen Türkei, die meine türkische Zugehörigkeit bestätigt, oder mit einer irritierten und erbosten Missbilligung meiner Frage, die eigentlich nur meiner natürlichen Neugier und meinem Wunsch, mein Gegenüber kennen zu lernen, geschuldet ist.
Auch andere muslimische Frauen sehen sich im Alltag hohem Verhandlungsdruck ausgesetzt. So arrangieren sich muslimische Bewerberinnen mit Kopftuch bei Einstellungsgesprächen mit den Zweifeln bezüglich ihrer als fremd und kundenunfreundlich empfundenen Kopfbedeckung, indem sie den Gesprächsleitern gegenüber ihre fundierte Ausbildung und Mehrsprachigkeit betonen, die Wichtigkeit der transkulturellen Öffnung angesichts der wirtschaftlichen und demografischen Situation hervorheben, sie ihr Tuch anfassen lassen, damit ihr Gegenüber buchstäblich begreift, dass es lediglich ein Stück Stoff ist.
Sie bieten zu guter Letzt an, für eine bestimmte Zeit als Praktikantin zu arbeiten, um mit ihren Kompetenzen zu überzeugen, anstatt aufgrund von Vorurteilen benachteiligt zu werden. Entweder geht ihr Gegenüber verwundert auf den Deal ein oder er beugt sich der kollektiven Annahme, dass muslimische Frauen mit ihrem Tuch nicht fähig sind zu arbeiten.
Ein hoffnungsvoller Paradigmenwechsel
Die seit dem letzten Jahrzehnt von politischer Seite artikulierte Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland ist die Anerkennung der sozialen und gelebten Realität und zeugt von einem hoffnungsvollen Paradigmenwechsel. Diesem muss jedoch endlich eine Praxis der fraglosen politischen, rechtlichen und symbolischen Zugehörigkeit der Bevölkerung mit Migrationshintergrund folgen.
In dieser muss ich nicht meine legitime Zugehörigkeit angesichts symbolischer Grenzen stets aufs Neue zurechtrücken und sie unter Beweis stellen, damit ich gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann.
Gleichzeitig wünsche ich mir aber auch ein verändertes Verhältnis der deutsch-deutschen Mehrheit zu diesem Thema, im Rahmen dessen meine Zugehörigkeit als selbstverständlich anerkannt und meine Identifikation mit Deutschland ohne Weiteres als legitime Angehörigkeit bestätigt wird.
Dies fordert jedoch die Mehrheitsgesellschaft heraus, ihre bisherigen Vorstellungen von legitimen Zugehörigkeiten zu Deutschland neu zu bedenken und vor allem zu leben. Denn Migration verändert nicht nur die Migranten, sondern auch die Aufnahmegesellschaft. Aber inwieweit ist diese bereit, sich selbst neu aufzustellen und zu arrangieren?
Melahat Kişi
© Magazin 51°/Mercator-Stiftung 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de