Rückbesinnung auf das gemeinsame Erbe
Arabische und internationale Medien kommen dieser Tage und Wochen kaum hinterher, über die zahllosen Bluttaten des terroristischen "Islamischen Staates" (IS) zu berichten, der eine Kultur propagiert, die hier und da latent in den Strukturen unserer Gesellschaften und unserer Erziehung steckt.
Dieselben Medien versäumen dabei jedoch, auf Geschehnisse zu achten, die abseits der Schlachtfelder stattfinden und die das Zusammenleben gewöhnlicher Menschen befördern. Ganz im Gegensatz zu konfessioneller Ausrottung und tödlichem religiösem Fanatismus wird nämlich in den Dörfern um Nazareth gerade ein großartiges menschliches Erbe wiederbelebt.
Nazareth, die Stadt, die sinnbildlich für Palästina, Jesus und Galiläa steht, propagiert das friedliche Zusammenleben der Konfessionen. Hier, so nah am Himmel, lebten Christen und Muslime immer in gegenseitiger Zuneigung und Brüderlichkeit. Nazareth hat viel erlebt: Die Kindheit Jesu, seine Wunder und seine Auferstehung, den Sieg der muslimischen Heere und die Schlacht von Saladin im nahegelegenen Hattin.
Sinnbild für das Zusammenleben der Religionen
Laut einem Bericht der Zeitung Al-Quds al-Arabi soll der Bau eines gemeinsamen islamisch-christlichen Monuments im Dorf Kafr Kana in Galiläa bereits im September 2014 beginnen, Budget und Grundstück seien vorhanden. Es soll zu einem Sinnbild des Zusammenlebens der Religionen im Dorf und um Nazareth werden.
Bürgermeister Mujahid Awawida gab an, die Idee sei aus der "Verirrung" entstanden, die gegenwärtig den gesamten Nahen Osten heimsuche und dessen perfidester Auswuchs der IS sei – eine Terrororganisation, die eine größere Gefahr für den Islam darstelle als alle seine Feinde in der Geschichte.
"Dieses hochsymbolische Projekt sendet eine Botschaft der Hoffnung, dass es auch noch kluge Menschen gibt, die etwas berichtigen und als Muslime und Christen zusammen einen arabischen Neuanfang schaffen möchten", so Awawida.
Ausgehend von dem koranischen Prinzip "Ihr habt Eure Religion und ich die meine" und dem Prinzip "Gottes sind alle Religionen" haben in Kafar Kana Muslime und Christen immer Brot, Sorge und Hoffnung miteinander geteilt. In guten wie in schlechten Zeiten hielten sie gemäß diesem Grundsatz zusammen.
Bürgermeister Mujahid Awawida ruft uns mit dieser kreativen und schönen Idee etwas ins Bewusstsein, was uns tagtäglich abhanden zu kommen droht, während wir vor dem Fernseher fassungslos nicht enden wollende konfessionelle Konflikte verfolgen. Diese Idee aus einem Dorf bei Nazareth in Galiläa spricht laut aus, wozu es keine Alternative gibt: Zusammenleben statt endloses wechselseitiges Blutvergießen! Das muss die Lehre aus der Geschichte überall und für alle Zeiten sein.
Suche nach einer gemeinsamen Formel
Da wo verschiedene Ethnien und Religionen zusammenleben, gibt es Konflikte. Doch nach jedem Blutvergießen bleibt am Ende die Erkenntnis, dass alle eine Formel finden müssen, nach der sie zusammenleben können. Nachdem die Menschen einen hohen Preis für diese Lektion gezahlt haben, könnten sie heute von der Ausgrenzung zur Akzeptanz des anderen übergehen. Man soll Unterschiedlichkeiten respektieren, aber man muss sie nicht in den Mittelpunkt stellen. Dann kann man sich auf das Wesentliche und das Gemeinsame im Leben konzentrieren.
In der arabischen Welt stehen wir heute an einem beängstigenden Scheideweg: Entweder lassen wir uns hineinziehen in einen Strudel der Ausgrenzung und Ausrottung, was einen Krieg aller gegen alle bedeuten würde, aus dem auch nach Jahren oder Jahrzehnten alle nur als Verlierer hervorgehen würden, oder aber wir werden uns der schrecklichen Konsequenzen religiöser Kriege bewusst und halten uns an das Prinzip eines friedlichen Zusammenlebens und gegenseitiger Zugeständnisse.
Der falsche Weg droht uns in unendliche religiöse und ethnische Konflikte zu führen: Der IS rottet die Christen aus, Sunniten und Schiiten bekämpfen sich unentwegt weiter, Araber führen Krieg gegen Kurden, Sunniten gegen Alawiten, Drusen gegen Sunniten und Christen. Ganz zu schweigen von dem auf Vernichtung zielenden zionistischen Rassismus, der in der Region zusätzlich einen islamisch-jüdischen Konflikt befeuert und damit Jahrhunderte der friedlichen Koexistenz von Juden und Muslimen von Marokko bis Bahrain über Palästina, Irak und Syrien abwertet.
Als einen Lichtblick unter den Reaktionen auf die IS-Verbrechen an den Christen und Muslimen im Irak empfand ich einen Artikel eines christlichen Palästinensers, der in sozialen Netzwerken häufig geteilt wurde. Einige Sätze dieses Essays verdienen es zitiert zu werden, weil sie auf den Punkt bringen, wie man in der Region historisch mit Religion und Riten so umgegangen ist, dass damit Brüderlichkeit und unbefangenes Zusammenleben gestärkt wurde, statt daraus eine Quelle gegenseitigen Mordens zu machen.
Der Ruf des Muezzins vom Kirchturm
Jamal Salsa fragt in seinem Artikel, der einem eindringlichen Appell gleichkommt: "Soll ich meine arabischen Wurzeln denn einpacken und meine Heimat verlassen, nur weil mein Christentum arabisch-islamisch geprägt ist? Das werde ich nicht tun. Und was ist mit dem Gewährsschreiben des Kalifen Omar, liebe Muslime? Oder mit Muthanna bin Hartha ash-Shaibani, dem christlichen Heeresführer im Sassanidenstaat, der sich von den Byzantinern losgesagt und sich stattdessen der Armee von Saad bin Abi Waqqas angeschlossen hatte, um sich an den Eroberungszügen der Muslime zu beteiligen? Wie soll ich die arabischen Gedichte eines Amr bin Kalthum aus meinem Gedächtnis löschen? Wie soll ich das Erbe meiner Vorfahren in mir auslöschen? Wie soll ich meine Stadt vergessen, in deren Gassen ich meine Kindheit verbrachte, wo meine Schulfreunde wohnten, mit denen ich mich später durch den arabischen Nationalismus politisierte, um gemeinsam Front zu machen gegen Besatzung und Kolonialismus?"
Und weiter schreibt Jamal Salsa: "Ist unser Patriotismus von damals schon vergessen, als die Türken unter der Fahne des Islam das arabische Iskenderum raubten, während in Damaskus Muslime und Christen mächtige Demonstrationen gegen diesen Schritt durchführten? Damals gingen sie von den Kirchen in Damaskus aus, nachdem die Türken alle Moscheen geschlossen hatten, um jeden Protest gegen die Einverleibung Iskenderums zu unterbinden. Alle Kirchen wurden damals zu Moscheen, ja der muslimische Imam hielt seine Freitagspredigt vor einem christlichen Altar, und der Muezzin rief vom Kirchturm! Warum schließt Ihr die Augen vor dieser Geschichte? Warum hört Ihr nicht die Stimme des Arabertums, die aus den Tiefen der Geschichte ruft?"
Khaled Hroub
Aus dem Arabischen von Günther Orth
© Qantara.de 2014