"Die Globalisierung ist so alt wie die Menschheit"
In Ihrem intellektuellen Werk versuchen Sie seit mehr als 40 Jahren auf kritische Art und Weise, die Problematik der Globalisierung zu analysieren. Wie schätzen Sie die derzeitige Weltlage ein? Teilen Sie den Pessimismus, der in der Luft liegt?
Samir Amin: Die Welt befindet sich derzeit in einer schwierigen Phase, der so genannten Phase der Globalisierung. Diese begann schon vor dem Niedergang der Sowjetunion, Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre, als der amerikanische Präsident Ronald Reagan und die britische Premierministerin Margret Thatcher die Aufhebung dessen verkündeten, was den Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg ausmachte. Eine Phase, die im Westen durch einen historischen Kompromiss zwischen Arbeit und Kapital gekennzeichnet war und die Schaffung des Wohlstandsstaats ermöglicht hatte, und zwar ausgehend von den Prinzipien der Marktregulierung. Diese wiederum hatte es den Arbeiterklassen erlaubt, vom Fortschritt der Produktivität und von der Umverteilung der Reichtümer zu profitieren.
Die Phase der Globalisierung setzte ein, als die Regulierung des Marktes rückgängig gemacht wurde und der Neoliberalismus Einzug hielt, der sich, ohne Rücksicht auf soziale Belange, auf der absoluten Macht des Kapitals gründet. Der Zusammenbruch der kommunistischen Regime, aber auch das Ende des Elans des populistischen Nationalismus in den Ländern der Dritten Welt haben eine neue Situation geschaffen, die den Triumph des Neoliberalismus erst ermöglichte. Dieser Neoliberalismus klammert den sozialen Aspekt im wirtschaftlichen Entwicklungsprozess aus, sei es in den Industriestaaten oder auch in den Drittweltstaaten.
Sie sagen also, die Globalisierung sei kein neues Phänomen?
Amin: Die Globalisierung ist ein altes Phänomen, ich würde sagen, sie ist so alt wie die Menschheit. Die Verbreitung der großen Religionen wie des Christentums und des Islams ist auch eine Art Globalisierung.
Aber die moderne Globalisierung führt zu einer Polarisierung auf Weltniveau. Die Welt ist geteilt in dominante Zentren und in Peripherien. Die kapitalistische Globalisierung hat mehrere Etappen durchschritten: Zum ersten die, die man als klassisch bezeichnen kann, und die sich von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg erstreckte. Diese Phase zeichnete sich durch die Industrialisierung Europas, Nordamerikas und Japans aus sowie durch die Ausbreitung des Kolonialismus.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die kolonialistische Globalisierung dank der nationalen Befreiungsbewegungen und des Zugangs bestimmter Regionen der Dritten Welt zur Industrialisierung eine Veränderung erlebt. Aber diese Phase hat nur etwa 30 Jahre gedauert.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat dann unter anderem die Bedingungen geschaffen, die eine weltweite Ausbreitung des Kapitals auf allen internationalen Ebenen ermöglichte. Die Gründung der Welthandelsorganisation ist weit bedeutender als die der Weltbank oder des Internationalen Währungsfonds, denn sie ist eine Art international dominierender Kapital-Club, das heißt der mega-multi-nationalen Konzerne, die ihre Gesetze der Dritten Welt und den ehemaligen kommunistischen Ländern aufzwingen.
Aber finden Sie nicht, dass sich die Globalisierung wie eine Art universelle Evidenz durchgesetzt hat, und zwar ohne glaubwürdige Alternativen?
Amin: Die Globalisierung hat das Gegenteil von dem bewirkt, was sie vorgab, erreichen zu wollen. Sie hat keine schnelle Entwicklung nach sich gezogen, sondern im Gegenteil zu einer weltweiten Rezession geführt und zu einer Zunahme sozialer Probleme, Ungerechtigkeiten und der Arbeitslosigkeit.
Wenn Frau Thatcher sagt, dass es dazu keine Alternativen gebe, was ist dann der Sinn von Wahlen? Und wenn die Wirtschaft über das Schicksal der Menschen entscheidet, welche Rolle spielt dann das Parlament? Anders gesagt: Die Globalisierung nimmt der Demokratie jede Glaubwürdigkeit.
Denken Sie, dass die Globalisierung das Voranschreiten der Demokratie in Afrika ermöglicht hat, zum Beispiel im Senegal, den Sie gut kennen? Anders gesagt: Ist die Beziehung zwischen Demokratie und Globalisierung eine Beziehung, in der sich beide Komponenten ergänzen oder widersprechen?
Amin: Es ist auf jeden Fall eine widersprüchliche Beziehung. Es ist wahr, dass es Veränderungen gegeben hat, aber sie sind rein formal geblieben, wie zum Beispiel die Anerkennung des politischen Pluralismus, oder dass manche Wahlen weniger gefälscht wurden als früher. Dieser demokratische Fortschritt wurde aber nicht von einem sozialen Fortschritt begleitet, was den Rückschritt der demokratischen Legitimität zur Folge hatte. Das zeigt auch die Ausbreitung des politischen Islams, der die Demokratie ablehnt.
Aber welche Alternativen gibt es? Glauben Sie nicht, dass die theoretische Auseinandersetzung mit der Problematik, die glaubwürdige und plausible Alternativen schaffen könnte, in der Krise steckt?
Amin: Es gibt sicher eine solche Krise, aber ich bin trotzdem optimistisch, denn die Prinzipien dieser Alternativen sind klar. Alle Völker brauchen Fortschritt in drei verschiedenen Bereichen, die sich gegenseitig ergänzen: Erstens müssen die Gesellschaften demokratisiert werden, nicht nur durch die Anerkennung des politischen und ideologischen Pluralismus, sondern durch die Anerkennung der sozialen Rechte der Menschen. Zweitens darf der Gewinn des Kapitals nicht Vorrang haben über die sozialen Aspekte. Drittens müssen die Rechte der Staaten, der Nationen, der Völker, nennen Sie es, wie Sie wollen, anerkannt werden. Die aktuelle Interdependenz ist in Wahrheit eine ungleiche Abhängigkeit. Die Deregulierung des Markts nutzt nur den Stärksten. Wenn die Weltbank zum Beispiel von Anpassung spricht, dann versteht sie darunter die Anpassung des Schwachen an den Starken. Wir aber wünschen uns das Gegenteil.
Die Globalisierung hat die Ziele, die sie angeblich realisieren wollte, nicht erreicht. Deshalb befinden wir uns in einer neuen Phase, der Phase der Militarisierung der Globalisierung. Das Kapital kann seine Gesetze nur aufzwingen, indem es sich auf militärische Mittel stützt. Das erklärt teilweise die derzeitige amerikanische Hegemonie. Der Vorteil der USA ist zunächst militärischer und nicht wirtschaftlicher Natur.
Die Amerikaner haben ein Außenhandelsdefizit in allen Bereichen, außer bei den Finanzen. Diese Tendenz können wir seit zwanzig Jahren feststellen und nicht erst seit George W. Bush. Die USA versuchen, diese wirtschaftliche Schwäche durch ihre Vormachtstellung im militärischen Bereich auszugleichen.
Das führt uns zum Krieg gegen den Irak...
Amin: Um dieses Ziel zu erreichen, haben die USA für ihren „militärischen Erstschlag“ die Region ausgewählt, die vom Balkan bis zum Mittleren Orient und Zentralasien reicht. Diese Region wurde gewählt, und ich sage für den militärischen Erstschlag, weil das zentrale Ziel der amerikanischen Strategie darin besteht, Europa, Russland, China und Indien, das heißt alle Mächte, die sie in Zukunft eventuell militärisch und wirtschaftlich in den Schatten stellen könnten, davon abzuhalten, ihnen gegenüber unabhängig zu werden.
Die USA haben sich zu einem Schlag gegen den Irak entschieden, nicht weil er ihr Hauptfeind wäre oder aus kulturellen Gründen oder weil der Islam seinem inneren Wesen nach und spontan Terrorismus produziert, sondern weil die Region das schwächste Glied im Weltsystem ist. Sie können losschlagen, ohne eine große Reaktion fürchten zu müssen.
Es gibt zwei Ziele: die Kontrolle der Erdölreserven und die Errichtung von Militärbasen, um sowohl wirtschaftlichen als auch militärischen Druck auf die Konkurrenten ausüben zu können.
Wenn dem so ist, wie erklären Sie, dass sich Russland des gleichen antiterroristischen Diskurses in seinem Krieg in Tschetschenien bedient, und dass die USA in vielen europäischen Ländern eine so große Unterstützung erfahren?
Amin: Ich spreche von Annäherung, und nicht von Allianz gegen die amerikanische Hegemonie. Die Reaktion ist noch sehr schwach. Wir sind in einer Phase, in der eine Reaktion auf die amerikanischen Pläne erst im Aufbau begriffen ist. Das Problem ist, dass die Bourgeoisie, die in diesen Ländern dominierend ist, viele gemeinsame Interessen mit der neoliberalen Globalisierung hat.
Interview: Hassan Znined; Übersetzung aus dem Arabischen: Hassan Znined
© 2002 Hassan Znined
Samir Amin, geb. 1931 in Kairo, war von 1957 bis 1960 im ägyptischen Wirtschaftsministerium tätig, von 1960 bis 1963 war er Berater der Regierung von Mali, 1980 wurde er Direktor des „Forum du Tiers Monde“, das seinen Sitz in Dakar hat. Seit 1996 ist Amin zusätzlich Präsident des „Forum Mondial des Alternatives“, das sich unter anderem als Widerpart des Weltwirtschaftsforums von Davos versteht.
Auf Deutsch liegt von ihm vor: "Die Zukunft der Weltsysteme" (Hamburg, 1997). Mehr über Samir Amin lesen Sie in E+Z - Entwicklung und Zusammenarbeit (Nr. 6, Juni 2001, S. 196 - 199)