„Der Islam könnte Palästina und Israel versöhnen“

Yahya Cholil Staquf ist Generalsekretär von Nahdlatul Ulama (NU), der größten muslimischen Organisation der Welt. Im Interview mit Rizki Nugraha legt Yahya Cholil Staquf dar, wie der Islam eine konstruktive Rolle im Nahost-Friedensprozess spielen könnte.

Von Rizki Nugraha

Der indonesische Gelehrte Yahya Cholil Staquf folgte im Juni 2018 einer Einladung des American Jewish Committee (AJC) zum Global Forum des AJC in Jerusalem über interreligiösen Dialog und den Stand der Beziehungen zwischen Islam und Judentum.

Anschließend war Staquf heftiger Kritik wegen seiner Dialogbereitschaft mit Israel und eines Treffens mit Premierminister Netanjahu ausgesetzt. Staquf selbst sah diese Begegnung als Gelegenheit, eine Friedensbotschaft zu überbringen.

Indonesien ist das Land mit der weltweit größten Anzahl von Muslimen. Das Land unterhält keine offiziellen diplomatischen Beziehungen zu Israel. Viele Indonesier sehen sich auf der Seite der Palästinenser.

Das Verhältnis zu Israel hat sich in jüngster Zeit verschlechtert. Die Regierung in Jakarta verweigert Israelis seit Mai 2018 die Einreise wegen der anhaltenden Gewalt im Gaza-Steifen. Daraufhin reagierte Israel ebenfalls mit Einreisebeschränkungen für Indonesier.

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Welchen Eindruck von Premierminister Benjamin Netanjahu hatten Sie bei Ihrer Begegnung?

Yahya Cholil Staquf: Er sprach über seinen Wunsch, die Beziehungen zu Indonesien zu normalisieren. Ich kann zwar nicht im Namen der indonesischen Regierung sprechen, aber ich glaube nicht, dass wir die Beziehungen zwischen Indonesien und Israel getrennt von der Palästinenserfrage sehen können. Solange es dafür keine Lösung gibt, bleibt eine Normalisierung zwischen Indonesien und Israel schwierig.

 

 

Hat Netanjahu Ihren Besuch beim Global Forum als Einladung zu einem spontanen Treffen genutzt?

Staquf: Ja, das war so und es war sicher auch sinnvoll, diese Gelegenheit zu ergreifen. Für mich gilt ja das Gleiche. Auch ich kann das Treffen dazu nutzen, meinen Botschaften Nachdruck zu verleihen.

Allerdings habe ich mehrmals deutlich gemacht, dass ich weder ein Gesandter der Regierung noch ein Botschafter meiner Organisation NU bin. Netanjahu kann daher nicht behaupten, er habe die Unterstützung Indonesiens oder die Unterstützung der NU. Diplomatisch gesehen zieht er also keinen Vorteil aus unserem Treffen.

Wenn die indonesische Regierung weiterhin die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel verweigert, wird er nichts dagegen tun können.

Mit welcher Botschaft sind Sie nach Israel gereist?

Staquf: Das American Jewish Committee (AJC) hatte mich eingeladen, einen Vortrag auf dem Global Forum zu halten. Vor 16 Jahren gab es bereits eine ähnliche Einladung an den mittlerweile verstorbenen NU-Vorsitzenden und ehemaligen indonesischen Staatspräsidenten Abdurrahman Wahid, auch bekannt als Gus Dur. Meine Einladung zum AJC-Forum erfolgte also im gleichen Dialogkontext wie die damalige Einladung an Gus Dur.

Welche Botschaft wollten Sie dort vermitteln?

Staquf: Ich möchte Gelehrte aller Religionen bitten, darüber nachzudenken, wie Religion dazu beitragen kann, die vielen verschiedenen Konflikte zu überwinden, die heute unsere Welt heimsuchen. Religion wird in Konflikten ja oft als Rechtfertigung oder gar als Waffe eingesetzt. Sollte Religion nicht eine andere Rolle spielen und eine Lösung anbieten?

Ich suche den Schulterschluss mit den Friedensbewegungen in der israelischen Gesellschaft. Ich hoffe auf eine Stärkung dieser Bestrebungen. Die israelischen Friedensbewegungen wollen sich intensiver mit den Friedensbewegungen in anderen Teilen der Welt vernetzen, auch in Indonesien.

Kann der Islam den Frieden zwischen Israelis und Palästinensern fördern?

Staquf: Das ist möglich, wenn wir bereit sind, in neuen Kontexten zu denken. Warum dient der Islam denn heute als Rechtfertigung für Konflikte? Die Wurzeln liegen in einer Islamauslegung, die aus dem Mittelalter stammt. Wenn der Islam eine konstruktive Rolle einnehmen will, muss er sich im heutigen Kontext anpassen, da sich die Gegebenheiten grundlegend verändert haben.

Wenn wir heute die Geisteshaltung einer längst vergangenen Zeit durchsetzen wollen, wird das zwangsläufig zu Problemen führen. Die Konflikte werden weitergehen, wenn wir nicht bereit sind, unsere Einstellung zu ändern. Das sollte allen Muslimen klar sein.

Kundgebung in Jakarta gegen Israels Aktionen in Gaza. Foto ap
Einsatz für den Dialog: Yahya Cholil Staquf wurde in Indonesien wegen seiner Dialogbereitschaft mit Israel und eines Treffens mit Premierminister Netanjahu hart kritisert. Staquf selbst sah diese Begegnung als Gelegenheit, eine Friedensbotschaft in Zeiten der Konfrontation zu überbringen.

Lässt sich der Islam mit Blick auf den Konflikt mit Israel auch in einem neuen Kontext auslegen?

Staquf: Das ist durchaus möglich, weil die Religion vielseitige Auslegungen zulässt. Als der Islam in seiner Anfangszeit mit der Zivilisation Persiens in Berührung kam, wurde er ganz anders als heute ausgelegt. Das lehrt uns der Rückblick auf die Geschichte der islamischen Denkschulen.

Mit der Errichtung des heutigen politischen Systems im Iran wurde die Auslegung zementiert. Diese Festlegung dient zur Legitimierung des aktuellen politischen Systems. Wenn wir die frühere Exegese betrachten, werden wir sicher Anknüpfungspunkte für ein besseres Verständnis der aktuellen Lage finden und zu einer konstruktiveren Einstellung gelangen.

Wie könnte ein Dialog inmitten der jüngsten Eskalation aussehen?

Staquf: Zunächst einmal müssen wir Frieden wirklich wollen. Darauf kommt es an. Wollen wir weiterkämpfen, bis alles zerstört ist, oder wollen wir Frieden? Wer sich für Frieden entscheidet, muss den Dialog suchen. Das allein reicht natürlich nicht. Ein solcher Dialog muss von gesellschaftlichen Bewegungen begleitet werden und alle müssen sich den Frieden einvernehmlich wünschen. Dann werden die führenden politischen Köpfe eine Politik entwickeln, die auf Frieden abzielt.

Warum führte in Indonesien der nationale Diskurs zur Palästinafrage zu keinem Friedenskonsens?

Staquf: In Indonesien gibt es zwei Gruppen, die über das Thema Palästina sprechen. Der ersten Gruppe sind die Palästinenser ein wirkliches Anliegen. Die zweite Gruppe nutzt die Palästinenserfrage lediglich innenpolitisch zu ihrem eigenen Vorteil.

Wir müssen einen Diskurs darüber entwickeln, was die Palästinenser wirklich brauchen. Wie die Palästinenser eine Chance erhalten können, ihre eigene Zukunft zu gestalten. Einen solchen Diskurs sollten wir in Indonesien entwickeln. Es kann doch nicht darum gehen, Palästina gegen Israel oder Amerika zu verteidigen. Die aktuelle Geisteshaltung bietet leider keinen anderen Weg als die weitere Zerstörung an.

 

Das Interview führte Rizki Nugraha.

© Deutsche Welle / Qantara.de 2018

Yahya Cholil Staquf ist Generalsekretär von Nahdlatul Ulama (NU), der größten muslimischen Organisation der Welt. Staquf war Sprecher des ersten demokratisch gewählten Staatsoberhauptes von Indonesien, Gus Dur (Abdurrahman Wahid).

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers.