Ibn Arabi – ein Lehrmeister des Paradoxen
Herr Morris, Ibn Arabi (1165 -1240) gilt bis heute als der einflussreichste Autor in der arabischen Geschichte überhaupt. Können Sie das erklären?
James Morris: Die Antwort ist paradox. Alle seine Werke sind in einem sehr gelehrten Arabisch verfasst. Sie setzen eine umfassende Bildung voraus, über die nur ein kleiner Kreis von Gelehrten verfügte.
Gleichzeitig wurde Ibn Arabi trotzdem weit über die arabisch-sprechende Welt hinaus einflussreich. Wie kann das sein? Die Antwort liegt in seiner Methode, religiöse Lehren auf ihre spirituelle Erfahrung zurückzuführen, also auf Erfahrungen, die Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten teilen. Damit hat er eine Art universeller "Phänomenologie des Geistes" entwickelt und Formen einer spirituellen Erkenntnis formuliert, zu der alle Menschen einen Zugang finden können.
Spielt die Poesie eine entscheidende Rolle in der Rezeption?
Morris: Es gibt zwei Gründe für diese erstaunliche Rezeption. In der Tat haben Dichter und Musiker seine Texte übernommen und in die neuen Sprachen des Islam übertragen, der nach den Mongolenstürmen im 13. Jahrhundert zur Weltreligion wurde. Diese Transformation begann mit dem Persischen und ging dann weiter in die neuen muslimischen Kulturen in Afrika und Asien.
Ein Beispiel: In Indonesien haben seine Schriften dazu geführt, dass die Schattenspiele (Wayang), die für die religiöse Unterweisung wichtig waren, populär wurden. Ibn Arabis Texte lieferten eine Verteidigung der spirituellen Kreativität in der Kunst der Schattenspiele gegen all jene mit einer sehr engen Sicht von Religion. Bis heute finden in der gesamten islamischen Welt Dichter, Künstler und Menschen, die ein spirituelles Leben führen, dezidierte Begründungen für ihr Schaffen oder ihr Leben in den Schriften Ibn Arabis.
Gibt es noch einen weiteren Grund?
Morris: Zu Lebzeiten Ibn Arabis stand die muslimische Welt politisch in der Gefahr, zwischen Mongolen und christlichen Kreuzfahrern zerrieben zu werden. Nach seinem Tod 1240 in Damaskus aber breitete sich der Islam sehr schnell nach Asien, in den Balkan und nach Westafrika aus. Träger dieser Ausbreitung waren vor allem die Sufi-Orden (tariqas).
Hinter der Gründung lokaler Sufi-Orden stand immer eine Handvoll charismatischer Individuen (die sog. awliya, Freunde Gottes), deren Praxis und Verständnis des Islam andere Menschen anzog. Die meisten dieser Sufi-Orden praktizieren das dhikr (Gedenken Gottes) in einem Ritual mit Poesie und Musik verbunden mit Pilgerfahrten und Festivals in lokalen Sprachen (meist in arabischer Schrift geschrieben) und Bräuchen. Wer heute die Bedeutung dieser populären Poesie und Musik verstehen will, zum Beispiel bei den Feiern zur Geburt des Propheten Mohammed muss auf die Interpretationen von Ibn Arabi zurückgreifen.
Wie ist sein Einfluss auf die moderne Welt?
Morris: Es gibt eine ganze Kette der Wirkungsgeschichte bis heute. Zum Beispiel war der persische Dichter Hafis, rund ein Jahrhundert später, vollkommen von Ibn Arabi geprägt. Hafis wurde dann von Goethe gelesen, der wegen ihm Persisch lernte. Nicht nur der "West-östliche Diwan", sondern vor allem "Faust" steht in der Tradition des Koranverständnisses von Hafis. Wenn wir heute die Faust-Geschichte in der Version von Wim Wenders in seinem Film "Himmel über Berlin" sehen, dann ist dieser Film so nah an koranischen Erzählungen, dass ich ihn in meinen Seminaren verwende, um meinen Schülern den Koran zu erklären.
An seinem Grab in Damaskus wird Ibn Arabi bis heute wie ein Heiliger verehrt. Menschen kommen mit ihren Anliegen und bitten ihn um Rat. Aber wie steht es um seine intellektuelle Seite?
Morris: Ibn Arabi wird auf drei verschiedene Arten verstanden. Als "Sidi Mohieddin" wird er als einer der Heiligen von Damaskus verehrt. Darüber hinaus müssen wir zwischen der arabisch sprechenden und der islamischen Welt insgesamt unterscheiden.
Wo man arabisch sprach, konnten viele Menschen zumindest einige seiner Bücher lesen. Gelehrte, Prediger und Sufi-Lehrer haben seine spirituellen Kommentare zum Koran und den Hadithen verwendet. Im Osmanischen Reich und in Asien dagegen konnten ihn nur Intellektuelle lesen, die klassisches Arabisch beherrschten und die religiösen Grundlagen kannten. Dort war sein Einfluss zunächst intellektuell und wirkte dann über Dichter, die ihn in lokale Sprachen übertrugen. Ibn Arabi wurde hier im Wesentlichen durch Poesie und Musik für eine breite Schicht populär.
Ibn Arabi ist bekannt für seine tolerante Haltung gegenüber anderen Religionen. Wie wurde diese Botschaft zu seiner Zeit aufgenommen?
Morris: Die multi-religiösen Reiche der Osmanen und Mongolen in Indien haben seine Lehren propagiert, weil Ibn Arabi spirituelle Verschiedenheit schätzt und betont, dass spirituelle Erfahrungen für jeden Menschen einzigartig sind.
Er (und viele andere Sufi-Lehrer) konzentriert sich auf die Pflichten, die allen Menschen spirituell, ethisch und intellektuell gemeinsam sind, nicht auf das, was Menschen trennt. Eine tiefe Verbundenheit zwischen Menschen ist auch heute notwendig, um eine globale Zivilisation zu schaffen, die wahrhaft menschlich ist.
Gleichzeitig versteht Ibn Arabi den Koran wortwörtlich?
Morris: Er versteht den Koran absolut buchstabengetreu, aber so einfach ist das nicht. Denn Ibn Arabis Verständnis des Koran beruht auf der arabischen Sprache, deren Wortwurzeln viele miteinander verbundene Bedeutungen haben. Das ist so ungefähr das Gegenteil von dem, was man normalerweise meint, wenn von einem wörtlichen Textverständnis die Rede ist.
Tatsächlich hat das Arabisch des Koran unglaublich viele Facetten und Dimensionen. Jeder Abschnitt ist mit allen anderen Textabschnitten verwoben. Ibn Arabis Verständnis erlaubt es uns, Bedeutungen zu sehen, die in den vorherrschenden Vorstellungen nicht vorkamen und die Ibn Arabi für einen neuen Kontext angepasst hat. Das wortwörtliche, göttlich inspirierte Verständnis ist bei ihm gleichzeitig ein spirituelles Verständnis, das für jeden einzelnen Menschen unterschiedlich eingefärbt ist.
Wie bekannt sind seine Ideen in der arabischen Welt heute?
Morris: Etwa die Hälfte seiner rund 600 Schriften hat die Zeiten überdauert. Sein Hauptwerk "Al Futuhat al Makkiya" (Mekkanische Eröffnungen) umfasst viele kürzere Schriften und ist für Leser in der ganzen Welt verfügbar. Ein anderes wichtiges Werk ist "Fusus al Hikam" (Die Weisheit der Propheten), aber auch dieses Buch enthält viele Anspielungen auf andere Werke und klassische religiöse Texte, die es schwer zu lesen machen.
Wird im Nahen Osten heute auch Forschung zu Ibn Arabi betrieben?
Morris: In allen muslimisch geprägten Ländern (nicht nur in der arabischen Welt) gibt es neben dem traditionellen Studium der Texte in Sufi-Zirkeln ein wachsendes Interesse an Universitäten, Ibn Arabi zu studieren und zu lehren. Das ist sicher keine zufällige Entwicklung. Denn die Lehren von Ibn Arabi mit ihrem spezifischen Zugang zum Koran und zu den Hadithen bilden die produktivste Antwort auf heute weit verbreitete, vereinfachende religiös-politische Ideologien.
Aber ist nicht Ibn Arabis Fokus auf der individuellen Spiritualität auch eine Herausforderung für den orthodoxen Islam?
Morris: Auch wenn ich den Begriff "orthodox" in Bezug auf den Islam problematisch finde: Die führenden Köpfe von Al-Azhar sind häufig sehr profunde Kenner der Schriften von Ibn Arabi (und anderen Sufis). In der Türkei gilt Ibn Arabi heute sogar als sehr "orthodox" (in dem Sinne, dass ihn die Regierung propagiert). In einer beliebten Serie auf Netflix in der Türkei über die Ursprünge der Osmanen mit dem Titel "Ertugrul" ist Ibn Arabi eine Art "Superheld", der stets in Krisensituationen auftaucht und den Tag rettet.
Im Iran folgen alle großen mystischen Poeten den Ideen Ibn Arabis. Wichtige zeitgenössische Intellektuelle verbreiten seine Schriften. Er wird sowohl (wenn auch aus unterschiedlichen Gründen) von orthodoxen Klerikern als auch in der breiten Bevölkerung verehrt. In muslimischen Ländern von Senegal bis Indonesien sind seine Ideen heute populär und gewinnen eher noch mehr an Einfluss.
[embed:render:embedded:node:23342]Nutzen reformorientierte islamische Theologen Ibn Arabi als Referenzpunkt?
Morris: Reform heute umfasst auch den Arabischen Frühling mit der Leidenschaft und den Hoffnungen einer breiten Mehrheit der Bevölkerung. Hierbei inspiriert Ibn Arabi sicher viele Menschen. Aber für ihn bedeutet Reform (islah) zuallererst den Wandel des eigenen Herzens und der eigenen Anschauungen darüber, wie wir uns in unseren Familien und Gemeinschaften verhalten.
Wir dürfen nicht vergessen, dass große Teile der arabischen Intellektuellen heute im Exil in Europa, den USA oder in Asien leben. Diese gut ausgebildeten Menschen wollen etwas, das sie mit ihrer religiösen Tradition verbindet und gleichzeitig in der modernen Welt funktioniert. Das kann Ibn Arabi ihnen geben.
Das Interview führte Claudia Mende.
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