Das ideologische Pendel
Was hat Sie zu dem Roman "Suslov's Daughter" inspiriert?
Habib Abdulrab Sarori: Der Wunsch, diesen Roman zu schreiben, wurde erste einige Jahre nach dem Arabischen Frühling in mir wach. Es begann mit dem Traum der Revolution, der später in sich zusammenbrach, die Utopie wurde zur Dystopie. Bösartige religiöse Kräfte mischten sich in diesen Freiheitskampf. Die politischen Auseinandersetzungen degenerierten zu militärischen Konflikten und Kriegen. Der Roman dreht sich um die jemenitische Revolution, vor dem Hintergrund einer Politik und Geschichte, die die Konstante für die meisten Szenarien des Arabischen Frühlings darstellt. Die eruptive Konfrontation mit den Konflikten unserer arabischen Gesellschaften war der inspirative Ausgangspunkt meines Romans.
Wie soll der Leser die Beziehung zwischen Imran und Faten (Hawiya) verstehen? Der eine ist ein Marxist, die andere eine Islamistin? Wie kann Imran ihr verfallen, nachdem er seine Frau Najaa bei einem islamistischen Terroranschlag verlor? Sind ihre "paradiesischen Begegnungen" überhaupt möglich oder gar plausibel, wenn ihre Persönlichkeiten so verschieden sind?
Sarori: Imran ist in erster Linie das Produkt Adens als kosmopolitische Stadt, wo er seine Kindheit verbrachte. Faten, die Tochter eines marxistischen Führers namens Suslov, war seine erste platonische Beziehung. Als Teenager übernahm Imran die vorherrschende Ideologie des marxistischen Leninismus, ging dann nach Frankreich, wo er Najaa begegnete und heiratete. In Frankreich änderte sich seine Einstellung. Er sah die Dinge nunmehr differenzierter und distanzierte sich von den hölzernen sowjetischen Ideologien des südlichen Jemen. Während des Arabischen Frühlings engagierte sich Imran politisch. Zuvor kam seine Frau bei einem verheerenden Terroranschlag in Paris ums Leben.
Einige Jahre später traf er seine Jugendliebe Faten in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa wieder. Jetzt war sie islamistische Predigerin und obskurantistische Wortführerin. Ihren Namen hatte sie in Ama al-Rahman geändert. Nach dem Putsch und anschließenden Bürgerkrieg 1986 in Aden, der das marxistisch-leninistische Experiment im südlichen Jemen beendete, kam sie zusammen mit konservativen Rückkehrern aus Afghanistan nach Sanaa. Nach diesem Putsch konvertierten viele eifrige Marxisten zum Islamismus. Dieser Konflikt zwischen "marxistischen Fraktionen", der in 10 Tagen 13.000 Menschenleben forderte, war für alle ein traumatisches Erlebnis und eine Zäsur, die zwangsläufig extreme Reaktionen auslöste. Nach dem Scheitern der Revolutionen in anderen arabischen Ländern, wie dem Libanon, schlossen sich viele marxistisch-leninistische Revolutionäre religiösen Sekten an, die einander bekämpften.
Ich wollte diese historischen Fakten als Ausgangsmaterial für die Erzählung nutzen: Mich beschäftigte die Bewegung von einer linksradikalen zu einer militant-islamistischen Ideologie. Einer solchen Umorientierung bleibt die ideologische Grundüberzeugung erhalten, ebenso wie die radikale intellektuelle Struktur und der feste Glaube an die absolute Notwendigkeit einer Ideologie – wenn auch in anderer Richtung.
Ama al-Rahman leidet unter Schizophrenie: Ihre eigenen Eltern hatten sich bereits wegen der psychischen Erkrankung des Vaters getrennt. Ein Guru, ein Anführer irregeleiteter Jemeniten, kommt zu Hilfe, wischt ihre Tränen fort und verheiratet sie mit seinem nichtsnutzigen Sohn, während er mit ihr gleichzeitig eine Affäre im Verborgenen hat. Sie scheint wie hypnotisch von ihm besessen und beherrscht zu sein.
Doch irgendwie kehrt Ama al-Rahman unbewusst zu ihrer unschuldigen Kindheit und der starken und aufrichtigen Beziehung zu Imran zurück, die es ihr ermöglicht, ihrem desaströsen Leben und ihrer düsteren, bedrückenden Umgebung zu entkommen. Doch möglicherweise tauscht sie nur eine Form von Narkotisierung gegen eine andere.
Und die "paradiesischen Begegnungen" der beiden Liebenden oder die "Proben für das Paradies", wie Elisabeth Jaquette sie in der englischen Übersetzung sinngemäß nennt: Sie sind sicherlich Metaphern für den spirituellen Kampf der Liebenden.
Sarori: So ist es. Diese leidenschaftlichen Begegnungen sind Momente einer spirituellen Fehde zwischen zwei Kämpfernaturen: Einer islamistischen Führerin, die nach der Macht greift, und einem Säkularisten, der von der Revolution und vom Sturz der Tyrannen träumt. Jeder will den anderen in seine eigene Welt hineinziehen.
In diesem stillen Krieg versucht Imran, seine Jugendliebe jenen Dschihadistenzirkeln zu entreißen, die einst seine Frau Najaa töteten. Ama al-Rahman wiederum weiß insgeheim, dass es ihr nicht gelingen wird, den geliebten Imran aus seiner fehlgeleiteten säkularen Kultur herauszulösen und zu einem gehorsamen Koranschüler zu machen.
Können Sie uns etwas darüber erzählen, wie Imran und seine Geliebte Facebook nutzen?
Sarori: Ich wollte die Rolle von Facebook seit Beginn des Arabischen Frühlings näher beleuchten. Facebook zeigt gut auf, wie Menschen denken, was in ihren Köpfen vorgeht. Der Roman verdeutlicht, wie mächtig die Islamisten auf Facebook sind, wie sie maskierte Facebook-Konten einsetzen, wie sie Ideen verbreiten und welche Aktivitäten die Gruppen unternehmen, um Menschen zu beeinflussen und aufgeklärte Stimmen zum Schweigen zu bringen.
Imran teilt auf Facebook seine progressiven und säkularen Meinungen; Ama al-Rahman nutzt verschiedene gefälschte Konten, die von anderen Facebook-Seiten unterstützt werden, die wiederum Mitgliedern ihrer politischen Zellen gehören. Das alles funktioniert perfekt!
Imran und seine Geliebte (beide mit gefälschten Konten) führen auf Facebook ein endlose Auseinandersetzung: Sie verlagern damit ihren spirituellen Kampf außerhalb des Bettes. Ihr Facebook-Verkehr ist durch ein Ungleichgewicht gekennzeichnet: Aufgrund seiner säkularen Vorstellungen hat Imran nahezu keine Anhänger, während seiner Geliebten Millionen folgen!
Welche Schlüsse zieht Imran nach dem Scheitern seiner zwölfjährigen Beziehung zu Ama al-Rahman, also während der "chinesischen Phase" mit der letzten Frau des Romans?
Sarori: Imran durchlebt im Laufe des Romans viele Phasen. Von den Anfängen in Aden über eine ausgedehnte Selbstfindungsphase bis hin zur Suche nach neuen Einsichten zum Ende des Romans in Form der chinesischen Philosophie und einer Strategie der reinen Intelligenz, wie sie der antike chinesische Militärstratege und Philosoph Sunzi in seinem Werk "Die Kunst des Krieges" anbietet. Das Ende des Romans ist offen: Imran sucht vermutlich noch immer nach Antworten, aber selbst sein Freund Azrael scheint ihm diese nicht geben zu können.
Gegen Ende des Romans erwähnen Sie eine Kirche, die sich metaphorisch in eine Bar verwandelt. Was war Ihre Absicht?
Sarori: Ich wollte damit die chinesische Vorstellung von allmählichem Wandel verdeutlichen: Nicht nur die Untrennbarkeit von Yin und Yang, sondern auch die Transformation des einen in das andere. Mit anderen Worten, Imran freundet sich mit einem flexiblen intelligenten Übergang an – im Unterschied zu seinen radikalen, revolutionären Vorstellungen aus seiner Jugend. Die Betrachtung der Kirche, die sich in eine Bar verwandelt, ohne zerstört zu werden, weist auf seine neue philosophische Anschauung hin.
Das Interview führte Valentina Viene.
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Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers