Die Hoffnung auf Wandel nicht aufgeben
Herr Sartorius, hat Sie der Ausbruch der arabischen Revolutionen überrascht, so wie viele Beobachter in Europa?
Joachim Sartorius: Als der Arabische Frühling begann, war ich wie alle anderen sehr begeistert. Als es in Tunesien losging, war diese Revolution im Kern unideologisch. Junge Leute verlangten nach Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung der Frauen und einem besseren Leben. Diese Revolution breitete sich rasch nach Ägypten, Libyen, Syrien und in den Jemen aus. Aber die von ihr geschaffenen Freiräume wurden bald von militanten und fundamentalistischen Interessengruppen benutzt. Wir alle wissen, dass sich die Situation heute weit entfernt hat von den Hoffnungen der Menschen, die zu Beginn der Revolution aktiv waren und sie trugen. Das ist tragisch.
Sie sprechen von einem spontanen, ungeplanten und unideologischen Anfang des sogenannten Arabischen Frühlings. Aber wie ist es dann vor allem in Syrien so rasch zu einer Ideologisierung gekommen?
Sartorius: In meinen Augen ist die Lage dort so kompliziert geworden, dass man sie kaum noch durchschauen kann. Für mich war der Grundkonflikt ein religiöser, der sich zwischen Sunniten auf der einen sowie Schiiten und Alawiten auf der anderen Seite abgespielt hatte. Aber dieser Grundkonflikt wird jetzt von stark ideologisierten und terroristischen Gruppen überlagert, die bis heute von außen, besonders von Saudi-Arabien und anderen regionalen Mächten, unterstützt werden. Im Grunde genommen, ist dieser religiöse Konflikt inzwischen völlig von ideologischem Hass und unbeschreiblicher Zerstörungswut überlagert.
Wird dieser ideologisierte Hass zum Zerfall der gesamten arabischen Welt führen?
Sartorius: Ich bin nicht so pessimistisch und skeptisch wie unser Freund, der syrische Dichter Adonis, der vom Niedergang der gesamten arabischen Welt spricht. Soweit ist es nicht. Aber ich fürchte, dass es noch viele Jahre dauern wird, bis dieser Glaubenskrieg beendet sein wird. Hier in Europa gab es den Dreißigjährigen Krieg und viele andere kriegerische Auseinandersetzungen von unvorstellbarer Grausamkeit, bis sich Europa 'zurechtgerückt' hat. Ich hoffe mit Blick auf die arabische Welt, dass sich die toleranten und die säkularen Kräfte langfristig behaupten werden.
Warum haben es eigentlich die arabischen Gesellschaften bis jetzt nicht geschafft, Demokratien aufzubauen und vor allem die Menschen gegen die Anziehungskraft der Terrorgruppen zu immunisieren?
Sartorius: Arabische Gesellschaften sind extrem junge Gesellschaften. Es gibt ein Potenzial für Radikalisierung bei diesen jungen Leuten, die arbeitslos sind und denen die bisherigen Regierungen keine Perspektiven aufzeigen konnten. Das machte und macht sie sehr anfällig für die Ideologie von terroristischen und radikalen Gruppen.
Dem Westen wird vorgeworfen, eigene wirtschaftliche Interessen zu vertreten, ungeachtet der zivilen Rechte der Menschen in der arabischen Welt und ohne ihr Wohl zu berücksichtigen. Die Weltmächte mischen sich ein, aber nicht immer zu Gunsten der arabischen Gesellschaften. Ist das eine Art Phobie gegenüber dem Westen oder hat das aus Ihrer Sicht mit der Realität zu tun?
Sartorius: Einige arabische Intellektuelle, auch Adonis, beschuldigen nicht nur Regionalmächte wie etwa die Türkei, Saudi-Arabien, Katar und Iran sondern auch den Westen, einschließlich Amerika, für die sich momentan immer dramatischer entwickelnde Situation in Syrien und Irak mitverantwortlich zu sein.
Ich glaube nicht, dass es eine Phobie ist. Die USA haben meiner Meinung nach über Jahre eine verheerende Politik im ganzen Nahen Osten betrieben. Das beginnt mit der Unterstützung von Saudi-Arabien und anderen extrem konservativen und vor allem aggressiven Staaten. Auch mit Blick auf Palästina haben die USA leider eine negative Rolle gespielt. Warum gibt es noch keinen palästinensischen Staat? Zumal dies von Barack Obama einst als Wunsch und Ziel formuliert wurde. Aber aus Angst vor den großen jüdischen Gemeinden in den USA wurde bis jetzt nichts dafür getan. Man findet immer irgendeine Erklärung. Ich wünsche mir, dass die USA und die Länder der Europäischen Union sich in dieser Frage stärker engagieren.
Auch abgesehen von der palästinensischen Frage bin ich von der Europäischen Union sehr enttäuscht. Sie hätte sich nach dem ersten Frühling in Tunesien sehr viel stärker in der internationalen Kultur- und Gesellschaftspolitik engagieren müssen, aber auch mit massiven Hilfsprogrammen und einer Art Marshall-Plan für den Maghreb, anstatt die Geschehnisse nur von außen zu analysieren. Insofern tragen die EU und die USA eine große Mitverantwortung für das jetzige Chaos.
Es ist paradox. Der Westen möchte zur Demokratisierung in den arabischen Ländern beitragen. Gleichzeitig liefert er Waffen an Saudi-Arabien, ein Land, das absolut undemokratisch ist, noch mehr, das ein absoluter Feind der Menschenrechte ist. Wo sind eigentlich die Werte des Westens, die seit der Französischen Revolution so viele Opfer gefordert haben, bis Demokratie, Säkularismus, Laizität, zivile Rechte und ein Rechtstaat aufgebaut werden konnten? Wurden diese Werte allein aus wirtschaftlichen Interessen verraten? Der Westen beansprucht diese Werte für sich, bei anderen ignoriert er sie….
Sartorius: Sie legen den Finger auf eine große Unredlichkeit hier im Westen. Einerseits werden in Reden bestimmte Werte gepriesen, aber unter Berücksichtigung wirtschaftlicher, finanzieller und ökonomischer Prioritäten handelt man in der Praxis doch anders. Es gab in Deutschland seitens der Grünen und der Linken einige Male Versuche, die Waffenlieferungen an Saudi-Arabien stärker zu kontrollieren, doch sind sie stets gescheitert. Offenbar ist die Waffenindustrie hierzulande sehr mächtig. So wird Rücksicht genommen auf Lobbyisten, Unternehmer, auf mögliche Wählergruppen und die Politik redet mit zwei Zungen. Ich will das nicht beschönigen.
Zurück zu Syrien und dem Irak. Sie haben gesagt, Sie sind optimistisch, dass die Situation in beiden Ländern irgendwann besser wird. Von außen betrachtet, wirkt die Lage dort jedoch immer dramatischer. Menschen fliehen massenhaft aus beiden Ländern. Zehn Millionen Syrer sind auf der Flucht. Woher rührt Ihr Optimismus?
Sartorius: Vielleicht ist es ein irrationaler Optimismus. Aber jeder Bürgerkrieg hört einmal auf, und sei es auch nur aus tiefster Erschöpfung nach dem Verbrauch aller Ressourcen. Die Wunden, Traumata und Zerstörungen werden von der Zeit nicht geheilt, aber doch so überdeckt, dass ein neuer Anfang gemacht werden kann. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Syrien komplett vor die Hunde geht. Ich kenne eine Reihe von Syrern - kreative Menschen, Händler, Künstler, Architekten, Filmemacher, Lyriker. Ich war vor dem Bürgerkrieg oft in Damaskus und Aleppo. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das große und wunderbare Potenzial dieses Landes einfach vernichtet wird.
Adonis sagt, in der arabischen Welt sei das Individuum daran gescheitert, eine moderne Gesellschaft aufzubauen. Das Individuum sei mit der Zeit von den rückständigen politischen Mächten und staatlichen Institutionen abhängig geworden. Deswegen könne der Einzelne kaum etwas bewirken, wenn die Institutionen nicht reformiert werden.
Sartorius: Mein Freund Adonis ist ein Pessimist. Ich hoffe, dass er mit seiner Analyse vom entmündigten arabischen Individuum nicht Recht behalten wird. Aber keiner von uns ist ein Prophet. Man kann nicht voraussagen, was sich noch alles ereignen wird. Ich kenne Syrer, die jetzt im Exil leben und trotzdem nicht ganz die Hoffnung aufgegeben haben, einmal zurückkehren und sich am Aufbau des Landes beteiligen zu können. Noch einmal: Ich kann mir nicht vorstellen, dass man dieses Land aufgeben wird. Es ist wichtig, den sog. Islamischen Staat in Griff zu bekommen und Assad zu überzeugen, die Macht sukzessive liberalen Kräften zu überlassen.
Fouad El-Auwad
© Qantara.de 2016
Joachim Sartorius wuchs in Tunis auf und war zunächst als Diplomat in New York, Istanbul und Nicosia im Einsatz. Neben seinen Arbeiten als Lyriker, Essayist, Prosa-Autor, Herausgeber und Übersetzer tritt Sartorius auch als Literatur- und Kulturvermittler in Erscheinung. In seinem Erzählband "Zwischen Berlin und Beirut. West-östliche Geschichten" (C.H. Beck, 2007) kommen deutsche und arabische Autoren zu Wort, die in einem schriftstellerisch-intellektuellen Austausch stehen.