Religion als Zufluchtsort
Herr Professor Ouaissa, Sie haben im Sommer 2016 Jugendliche aus Ägypten, Bahrain, dem Jemen, Jordanien, dem Libanon, Marokko, Palästina und Tunesien gefragt: "Wie religiös bist Du heute?" Welche Rolle spielt Religiosität im Alltag dieser Jugendlichen?
Rachid Ouaissa: Von den 9.000 befragten Jugendlichen aus neun Ländern gehören 94 Prozent dem muslimischen Glauben an. Religiosität spielt für sie nach ihrer Selbsteinschätzung eine immense Rolle - in ihrem Alltagshandeln, als moralischer Leitfaden, als Referenzrahmen in ihrem politischen Denken sowie als Selbstdisziplinierungsmechanismus; auch als Zufluchtsort in dieser Zeit voller Ungewissheiten. Das ist eine Erfahrung, die ich auch vor Ort erlebe, wenn ich mich bei meiner Familie in Algerien aufhalte.
Ein einschneidendes Datum war der Arabische Frühling, der Ende 2010 mit Protesten gegen das Regime in Tunesien begann. Wie hat sich die Religiosität seitdem verändert?
Ouaissa: Wir bemerken generell in allen untersuchten Ländern eine Zunahme der Religiosität - wenn auch nicht überall gravierend. Im Jemen, in Ägypten und in Palästina gab es eine größere Zunahme der Religiosität. Aber auch in den urbanen Zentren und in den ländlichen Räumen haben sich im Vergleich zu mittelgroßen Städten bis zu 100.000 Einwohnern mehr Jugendliche als stärker beziehungsweise sehr religiös bezeichnet.
Konnten Sie Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen feststellen?
Ouaissa: Es ist eines der deutlichsten statistischen Ergebnisse, dass sich 72 Prozent der Frauen als "stärker religiös" oder "sehr religiös" bezeichnen, dagegen nur 56 Prozent der Männer. Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Es hat sich etwas mit der Stellung der Frau in den Gesellschaften zu tun: Die Frau ist nach wie vor als Wächterin der Moral erzogen. Religion ist der wichtigste moralische Bezug. Dazu kommt, dass es nach wie vor mangelnde Aufstiegschancen für Frauen auf dem Arbeitsmarkt gibt.
Auch arabische Jugendliche haben immer mehr Zugang zu Internet, Freizeitmöglichkeiten und Massenkonsum - Dinge, die im Westen dazu geführt haben, dass kirchliche Angebote für Jugendliche nicht mehr so attraktiv sind. Erwarten Sie, dass diese Entwicklung mittelfristig auch dort zu Lasten der Religiosität geht?
Ouaissa: Sie haben etwas Wichtiges gesagt: dass die Kirche als religiöser Ort nicht mehr so wichtig ist, weil es einen Ersatz dafür gibt. Das ist in der arabischen Welt genauso. 80 Prozent der Jugendlichen haben ein großes Interesse am Fernsehen, danach kommt das Internet, je nach sozialer Schicht. Wohlhabende Jugendliche verbringen bis zu sieben Stunden täglich im Internet, die unteren Schichten, wenn sie den Zugang haben, bis zu vier Stunden. Religiosität wird aber zunehmend apolitisch. Nur 9 Prozent sind auf der Suche nach politischen Themen, 13 Prozent schauen religiöse Inhalte an. Ansonsten suchen sie, was auch deutsche Jugendliche im Internet suchen: Sport, Mode, Musik, Spiele, Freunde finden.
Also kann man davon ausgehen, dass die Rolle der Imame, die Gemeinschaft in der Moschee weniger wichtig wird?
Ouaissa: Richtig. Meine provozierende These ist, dass Religiosität zunehmend zu einer privaten Sache wird. Ähnlich, wie die Kirche als ein Ort der gemeinsamen Religiosität nicht mehr so attraktiv ist, verhält es sich auch beim Islam. Wenn ich religiös bin und einen Rat suche, gibt es Angebote wie "Imam online" oder spirituelle Ratgeber. Man braucht den Imam nicht mehr unbedingt als physisches Angebot vor Ort. Manches Angebot der Moscheen wird weniger wichtig, aber nicht die Religiosität an sich. Das ist zugleich Chance und Gefahr, denn jeder kann sich im Internet sozusagen zum Imam hochkatapultieren und beispielsweise Fatwas verbreiten, das sind Rechtsgutachten zu religiös-rechtlichen Fragen.
Besteht die Gefahr, dass online aktive Gruppen wie die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) für die religiösen Jugendlichen noch attraktiver werden?
Ouaissa: Eine der großen Unsicherheiten und Ängste bei den Jugendlichen in allen Ländern ist die Gewalt. Neben der ungewissen Zukunft haben sie Angst vor Gewalt. Was der IS propagiert, ist zumindest in unseren statistischen Ergebnissen nicht zu finden. Der Scharia-Staat wird nicht erwünscht, vielmehr ein demokratisches System. Viele Jugendliche vermissen aber eine starke Führungspersönlichkeit.
Wie stehen Sie zu der These, dass es einen Zusammenhang zwischen hoher Religiosität und Armut sowie niedrigem Bildungsgrad gibt?
Ouaissa: Diese These haben wir widerlegt. Wir kommen zu dem Ergebnis, dass die befragten Jugendlichen, die sich als ziemlich oder sehr religiös bezeichnen, überwiegend aus wohlhabenderen Familien stammen, in denen die Väter einen durchschnittlichen oder hohen Bildungsabschluss haben. (KNA)