Diebstahl auf Kosten anderer Generationen
Your first two novels were both set in Lahore. The new novel takes place in a nameless place – but it could be Lahore. Why did you decide to not use a specific setting?
Mohsin Hamid: If you say 'Pakistan', 'Lahore', 'Islam', these words suddenly have people think certain things. If you say, more broadly 'city', 'religion', 'country' – you can begin to address more universal ideas. And I believe it is important that writers should not be seen as exotic. Rather every place should be able to claim universality equally, whether it is Berlin, New York or Lahore.
Ihre ersten beiden Romane spielten in Lahore, der neue Roman dagegen in einer Stadt, die Lahore sein könnte, aber namenlos bleibt. Warum?
Mohsin Hamid: Pakistan, Lahore, Islam - diese Worte lassen einen sofort an etwas Konkretes denken. Sagt man aber Stadt, Religion, Land, kann man über universelle Fragen nachdenken. Meiner Meinung nach ist es wichtig, Autoren nicht zu exotisieren. Jeder Ort der Welt sollte Universalität für sich in Anspruch nehmen können – sei es Berlin, Lahore oder New York.
Auch, wenn Sie sich gegen Exotisierung wehren: "Asien" ist nicht wirklich die erste Referenz, an die der Westen denkt, wenn er Pakistan sagt.
Hamid: Es ist eine Tatsache, dass Pakistan Teil von Asien ist. Es ist ebenso Tatsache, dass die Städte in Pakistan boomen. In Lahore, wo ich wohne, leben zehn Millionen Einwohner. Vor 42 Jahren, als ich geboren wurde, hatte die Stadt noch eine Million Einwohner. Zugleich ist Lahore eine relativ prosperierende Stadt – arm, aber prosperierend, verglichen mit vielen anderen Städten in Pakistan oder Indien. Ich habe den Eindruck, wir versuchen Begriffe in einer bestimmten Weise zu definieren. Wir wollen, dass Asien Schanghai bedeutet, aber nicht Pakistan. Wie aber kann man über Asien sprechen, ohne über Pakistan zu sprechen?
Pakistan hat die viertgrößte Bevölkerungsdichte in Asien! Jeder vierte Asiate ist ein Pakistani! Und vieles, was für Pakistan gilt, gilt nicht allein auch für ganz Asien. Das betrifft vor allem die Erfahrung einer massiven Migration: Etwa eine Billion Menschen werden innerhalb der kommenden Generationen vom Land in die Stadt ziehen, in Asien, Afrika und in Lateinamerika. Und in diesen Mega-Cities mit zehn oder zwölf Millionen Einwohnern entscheidet sich die Zukunft der Menschheit. Diese Massenmigration findet auch in Pakistan statt. Das 'Asien' im Titel soll den Leser also daran erinnern, dass wir zu Stereotypen neigen – und dass es manchmal nützlicher ist, den Anderen nicht als 'den Anderen' zu sehen, sondern als Spiegel unserer selbst.
Auch der Held in Ihrem neuen Romans zieht vom Dorf – wo er nicht zuletzt tödlichen Krankheiten ausgesetzt ist – in die Stadt. Dort aber ist das Leben nicht unbedingt besser. Die Stadt wirkt selbst wie ein unkontrollierbarer wuchernder Organismus.
Hamid: Als krebsartiges Gebilde würde ich die Stadt nicht bezeichnen – auch wenn es stellenweise so scheint. Denn der Krebs kann den Organismus, in dem er wütet, töten. Ob aber die Stadt den Organismus, sprich die Erde tötet, ist noch nicht erwiesen. Ich glaube ehrlich gesagt, dass die Stadt das Potential hat, den Organismus unserer Erde zu heilen. Ich bin ein großer Befürworter von Städten, aus vielerlei Gründen. Ein junger Christ etwa, der aus einer kleinen Stadt oder vom Land stammt, wird in einer Großstadt wie Lahore mehr Aufgeschlossenheit und weniger Verfolgung, überhaupt ein besseres Leben vorfinden. In Lahore beispielsweise gibt es öffentliche Busse, Radio-Stationen, Universitäten, Musikshops, Rockbands, Transvestiten, Homosexuelle, Prostituierte, Krankenhäuser, gute Schulen. In einem kleinen Dorf dagegen gibt es womöglich weder Strom noch Wasser noch eine Schule. Oft sagen die Leute beim Anblick der riesigen Slums: Oh Gott, die Stadt ist eine dystopische Hölle. Ich möchte diese Leute dann immer bitten, sich doch auch einmal auf dem Land umzusehen, von dem die Slumbewohner stammen.
Das heißt nicht, dass die Städte nicht verbessert werden müssen – das müssen sie sogar sehr! Aber das wird auch geschehen. Denn gerade in der Stadt ist es für größere Gruppen ärmerer Menschen leichter, ihr Recht einzufordern: Sie können sich politisch einmischen, sie können ihre Stimme erheben, sie können demonstrieren. All das lässt mich denken: Die Stadt ist kein Paradies, aber sicher eine enorme Verbesserung.
Der Junge wird ein Tycoon, indem er seine Seele verkauft. Das Mädchen, das er liebt, will ihn vergessen, weil er sie an alles erinnert, was sie hinter sich lassen wollte. Gilt es, die eigene Herkunft zu vergessen, um Teil der Globalisierung zu sein?
Hamid: Ich glaube nicht, dass man seine Herkunft zwangsweise vergessen muss, um Erfolg zu haben. Aber ich glaube: je rücksichtsloser man allein an die Zukunft anstatt an die Vergangenheit denkt, umso erfolgreicher kann man sein. Mit anderen Worten: Nostalgie – und Liebe ist ein Aspekt davon – ist nicht wirklich von Nutzen, wenn man erfolgreich sein will.
Der junge Mann steigt ins Geschäft mit Tafelwasser ein. In Ihrem ersten Roman "Nachtschmetterlinge" war die Klimaanlage das Symbol für eine nach Klassengrenzen geteilte Gesellschaft. Ist Wasser das neue Symbol für die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich?
Hamid: Ja, aber auch für vieles mehr. Bis vor kurzem noch war Wasser nirgendwo auf der Welt ein kostspieliger Rohstoff. Es war ein öffentliches Gut, wie die Luft. Nun aber ist es möglich, dass diese Dinge vom Markt übernommen und verkauft werden. Einer der wichtigsten Gründe für die somalische Piraterie ist die zügellose Fischerei vor den Küsten Somalias, die dazu führt, dass die kleinen Fischer nicht mehr genügend fangen und stattdessen zu Piraten werden. Das Wasser im Buch ist also auch eine Metapher für die Welt, in der wir leben: eine Welt, in der unser Empfinden von Solidarität und Gemeinschaft so weit geschwunden ist, dass wir das, was wir zum Leben brauchen, nicht mehr mit allen teilen.
In welchem Umfang geschieht dies auch in Pakistan?
Hamid: Es geschieht überall. Auf der ganzen Welt pumpen wir den Aquifer leer, das Wasser unterhalb der Erde, so dass er kollabiert und vergiftet wird mit Chemikalien und Düngemitteln und Industrieabwässern. Wir machen damit also genau das Gleiche wie mit dem Kohlenwasserstoff. Doch die Folgen werden viel verheerender sein, denn wenn der Aquifer verschwindet, kollabieren Agrargesellschaften und auch die Städte werden nicht mehr funktionieren.
Als ich ein Kind war, gab es im Haus meines Großvaters eine Handpumpe. Man musste den Hebel nur auf und ab bewegen, und Wasser kam. Wer heute am gleichen Ort beispielsweise seinen Swimmingpool mit Wasser füllen möchte, muss 100 Meter tief bohren und das Wasser mit einer elektrischen Pumpe nach oben befördern! Zugleich hat sich die Bevölkerung von Lahore verfünffacht. Was also geschieht in den nächsten 20 Jahren? Genau darüber versuche ich zu reden: Dass wir nicht allein Dinge privatisieren, sondern Diebstahl begehen auf Kosten anderer Generationen.
Eine Episode gegen Ende des Romans handelt von der enormen Rolle des Militärs als führende Wirtschaftsmacht im Land.
Hamid: Auch in diesem Punkt spielt Pakistan ein wenig den Kanarienvogel in der Goldmine. Denn es zeigt uns etwas, das uns alle angeht. Die Armee ist in der Tat in Geschäfte verwickelt. Aber in absoluten Zahlen gemessen beläuft sich die Verteidigungsindustrie in Deutschland oder Amerika auf das Hundertfache. Ich las erst kürzlich, dass in Amerika derzeit über eine Million Menschen als Top-Secret-Geheimnisträger gelten! Was in Pakistan geschieht, kann uns also an das erinnern, was auch anderswo geschieht – auch wenn es in Pakistan immer ein wenig düsterer wirkt. Aber der menschliche Impuls und die Machart der Wirtschaft unterscheiden sich nicht wirklich.
Interview: Claudia Kramatschek
© Qantara.de 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Mohsin Hamid: "So wirst du stinkreich im boomenden Asien", Dumont-Verlag 2013, 224 Seiten, übersetzt aus dem Englischen von Eike Schönfeld