"Libyen darf nicht das Syrien von morgen werden"
Herr Kobler, wie würden Sie in einem Satz die Lage in Libyen beschreiben?
Martin Kobler: Die Situation ist chaotisch, teilweise anarchisch, der "Islamische Staat" dehnt sich immer mehr aus. Und es gibt ein Sicherheits- und Politikvakuum, das überwunden werden muss.
Im Moment gibt es eine Liste für eine Einheitsregierung, allerdings ist der politische Prozess dann wieder ins Stocken geraten...
Kobler: Die Chancen stehen gut, dass die Regierung das Licht der Welt erblicken könnte. Es ist wichtig, dass diese Regierung dann ihren Sitz in Libyen hat und nicht zur Exilregierung wird. Das hängt natürlich von vielen Faktoren ab, insbesondere der Sicherheitslage in Tripolis. Ganz wichtig wäre es, wenn man sich auf ein Sicherheitsabkommen verständigt, das vorläufig ja noch das Sicherheitskomitee des Präsidentschaftsrates gewährleistet wird. Das Komitee führt derzeit Verhandlungen mit den Milizen, die wir intensiv begleiten. Ganz oben auf der Tagesordnung steht die Ausdehnung des "Islamischen Staates" in Libyen. Ein weiteres wichtiges Thema ist die humanitäre Lage, die wirklich vollkommen desaströs ist. Diese Regierung muss Ergebnisse vorweisen, denn die Menschen erwarten von einer politischen Führung, dass sie für eine Verbesserung ihrer Lebenssituation sorgt.
Skeptiker des libyschen Friedensprozesses befürchten, dass wir es am Ende statt mit zwei Regierungen - wie heute - womöglich bald mit drei Regierungen zu tun haben könnten. Teilen Sie diese Befürchtung?
Kobler: Das darf nicht passieren. Die bis jetzt anerkannte Regierung in Tobruk wird durch die Einheitsregierung ersetzt. Die Regierung in Tripoli hat ohnehin keine Legitimität. Die Sicherheitsratsresolution sieht ganz klar vor, dass die einzig legitime Regierung die durch das libysche Abkommen geschaffene ist.
In Libyen existieren derzeit zwei große Machtzentren, die sich wiederherum aus einem Geflecht kleinerer Machtzentren zusammensetzen. Wieso sollen diese vielen Akteure heute bereit sein, ihre Macht an eine neue Einheitsregierung abzugeben?
Kobler: Die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Angesichts der großen und kleinen Machtzentren herrscht zwar nach wie vor Chaos in dem Land. Doch auch bei denjenigen, die von sich behaupten, ein großes Machtzentrum darzustellen, wie etwa in Tripolis, reicht der reale Machteinfluss nicht weit hinaus. Entscheidend hierfür sind zum einen die Städtevertreter, die gewählt wurden und zum anderen die Stämme im Osten Libyens. Diese Gruppen nehmen wir ganz besonders in Augenschein ermutigen sie, die Regierung zu unterstützen. Niemand hat ein Interesse an einer schwachen Regierung. Angesichts der Ausdehnung des "Islamischen Staates" und der humanitären Situation braucht das Land eine starke Regierung. Noch immer sind 1,4 Millionen Menschen von Nahrungsmittelhilfe und 2,4 Millionen von anderer humanitärer Hilfe abhängig.
Warum ist ein "humanitärer Waffenstillstand" ausgerechnet für das ostlibysche Bengasi so wichtig?
Kobler: Teile Bengasis liegen heute in Schutt und Asche. Dort wird ständig gekämpft. In etwa 66 Prozent der Schulen kann nicht mehr unterrichtet werden. Die Kinder haben schon jetzt ein Schuljahr verloren. Die ausländischen Arbeiter haben das Land inzwischen verlassen, die Krankenhäuser sind geschlossen oder verfügen nur über das Nötigste. Da die Situation völlig desaströs ist, arbeiten wir an diesem humanitären Waffenstillstand.
In den Medien wird viel darüber berichtet, wie stark sich der "Islamische Staat" in Libyen ausbreiten konnte. Es gab sogar schon Spekulationen, dass die IS-Führung von Syrien und dem Irak nach Libyen umziehen könnte, wenn es für die Dschihadisten dort militärisch zu eng werden sollte.
Kobler: Diese Entwicklung verfolgen wir sehr genau. Zwischen Januar 2015 und Januar 2016 hat sich der IS in Libyen sehr stark ausgebreitet. Die Dschihadisten versuchen momentan die Ölterminals von Ras Lanuf einzunehmen. Das wäre natürlich katastrophal, wenn das wenige Öl, das Libyen heute noch produziert in die Hände des IS fällt. Wir beobachten eine deutliche Ausdehnung des IS nach Osten. Es gab aber in den vergangenen Wochen auch Terroranschläge, die sich im Westen ereigneten. Am beunruhigendsten ist die Ausdehnung der Dschihadisten in Richtung Süden, wo sie täglich voranschreitet. Das strategische Ziel ist wohl eine Kooperation mit extremistischen Gruppierungen wie der Boko Haram und den Terrorgruppen im Tschad und in Niger. Die Libyer müssen diese Entwicklung verhindern.
Momentan ist die Rede davon, dass das UN-Waffenembargo gegen Libyen aufgehoben werden könnte, wenn eine Einheitsregierung im Amt ist. Gibt es nicht schon jetzt viel zu viele Waffen in dem Land? Einerseits sollen die Waffen von den Milizen eingesammelt werden, andererseits spricht man von der möglichen Aufhebung des UN-Waffenembargos. Ist das nicht ein Widerspruch?
Kobler: Im Prinzip ist das Land nicht arm an Waffen. Statistisch hat jeder Libyer drei Waffen. Aber in dem Moment, wo eine Regierungsbildung zustande kommt, muss eine Sicherheitsstruktur geschaffen werden, um den IS wirkungsvoll zu bekämpfen. Das müssen die Libyer jedoch selbst in die Hände nehmen, sie müssen im Kampf gegen den IS gerüstet sein. Und dazu braucht die neue libysche Armee natürlich auch moderne Waffen. Ich habe Verständnis für die Forderung nach Aufhebung des Waffenembargos, aber das muss von einer Regierung beantragt werden, die über die nötige Legitimität verfügt und nicht nur einen Teil des Landes vertritt.
Es ist wichtig, dass man den Kampf gegen den IS vorantreibt. Während die Libyer sich in zahlreichen Streitereien ergingen, zuletzt auch mit der neuen Regierung, profitierte der IS von diesen Konflikten. Die Dschihadisten feilschen nicht über irgendwelche Kommas in Abkommen – da wird einfach Land genommen, Ölfelder besetzt und Versuche gestartet, die Ölterminals in Ras Lanuf und am Golf von Syrte zu besetzen, um den Ölhandel zu kontrollieren. Die Fragmentierung der politischen Landschaft in Libyen stößt hier auf eine militärische Einheit des IS. Der politische Prozess muss deshalb rascher als bisher erfolgen und darf auch nicht vom militärischen Prozess eingeholt werden.
Es gibt Befürchtungen, dass der von der Einheitsregierung eingeleitete politische Prozess scheitern könnte, wenn zu viel Druck von außen ausgeübt wird. Benötigt die Regierung nicht mehr Zeit, um etwas Solides und Nachhaltiges in Libyen aufzubauen?
Kobler: Sie wird scheitern, wenn nichts passiert und der IS sich ungehindert in einem politischen und militärischen Vakuum ausbreitet. Deswegen gibt es keine Alternative zur Einigung der Libyer untereinander. Ausländer können das nicht ersetzen. Wir können sie zwar dabei unterstützen und mit ihnen reden, den politischen Willen müssen sie aber selbst zeigen. Auch müssen sie einen Konsens erzielen, dass man gemeinsam den IS bekämpft – und in dieser Hinsicht sehe ich für die Zukunft gar nicht so schwarz.
Als Sie im Kongo als UN-Unterhändler gearbeitet haben, unterstanden Ihnen 20.000 Blauhelme. Gestaltete sich Ihre Mission dort vergleichsweise einfacher? Welche Lehren haben Sie aus dem Kongo für Libyen gezogen?
Kobler: Im Kongo gibt es auch staatsfreie Räume, wo die Regierung keinerlei Macht hat und die Rebellen bestimmte Gebiete kontrollieren. Der IS ist allerdings viel organisierter und gefährlicher als die vielen Rebellengruppen, die es im Kongo gibt. Doch das Prinzip ist dasselbe: Der Staat muss sein Gewaltmonopol wieder herstellen. In Libyen ist das jedoch sehr viel schwieriger. Dort gibt es keine internationale Friedentruppe, die im Einsatz ist. Das wäre auch absurd und würde keine Lösung bringen. Vielmehr müssten die Libyer selbst in die Lage versetzt werden, diesen Kampf gegen die Dschihadisten zu führen.
Manche Libyer werfen Ihnen vor, das Terrain für eine ausländische Intervention in Libyen abzustecken…
Kobler: Nein, denn wir sollten nicht den zweiten vor den ersten Schritt tun. Zunächst muss eine Regierung her, die ihre eigenen Kräfte bündelt und ihre Sicherheitsstruktur sowie den Kampf gegen den IS selbst organisiert. Und falls diese Regierung dann später entscheidet, dass sie ausländische Hilfe benötigt, warum denn nicht? Es geht schließlich darum, den IS einzudämmen. Libyen ist nur ein paar Seemeilen von Malta entfernt. Es gibt natürlich ein berechtigtes europäisches Interesse, dass man den IS nicht herüberkommen lässt. Und es gibt genauso ein europäisches Interesse, dass Libyen nicht das Syrien von morgen wird.
Das Interview führte Karim El-Gawhary.
© Qantara.de 2016
Der deutsche Diplomat und UN-Unterhändler Martin Kobler (62) war Botschafter in Ägypten und im Irak. Im Dezember feierte er einen ersten großen Erfolg zur Lösung des Konfliktes in Libyen, als Teile der streitendenden Parteien in marokkanischen Badeort Skhirat ein Abkommen zur Gründung einer libyschen Einheitsregierung unterzeichnet hatten. Er sprach von einem "historischen Tag für Libyen". Das Abkommen sei aber zugleich erst der "Beginn eines langen Weges für Libyen".