Kampf um die Seele Indiens
Frau Dehlvi, die aktuellen Proteste wurden international aufmerksam verfolgt. Ihre Familie ist seit Jahrhunderten Teil des sozialen Gefüges in Delhi. Wie haben Sie die Atmosphäre in Ihrem Umfeld in den letzten Tagen und Wochen erlebt?
Sadia Dehlvi: Ich stamme aus einem liberalen und säkular eingestellten muslimischen Umfeld. Meine Freunde und ich unterstützen die Proteste. Obgleich unsere Familien hier seit vielen Generationen wohl etabliert sind, fühlen wir uns im heutigen Indien langsam an den Rand gedrängt und dazu genötigt, Bürger zweiter Klasse zu werden.
Wieso demonstrieren jetzt so viele Menschen gegen das neue Staatsbürgerschaftsgesetz?
Dehlvi: Dieses diskriminierende Gesetz ist dazu gemacht, weite Teile der muslimischen Bevölkerung zu entrechten. Es wird vielen von ihnen erschweren, ihre Staatsangehörigkeit nachweisen zu können. Dabei müssen Sie wissen, dass weite Teile der indischen Bevölkerung ohne Papiere leben. Wie sollen diese Menschen denn ihre Staatsangehörigkeit nachweisen? Wo sollen sie hin und was sollen sie tun, wenn die Regierung sich dazu entscheiden sollte, sie ins Visier zu nehmen? Das Gesetz wurde bereits verabschiedet. Die Menschen sind wütend, denn die Regierung geht die wirklichen Probleme der indischen Bevölkerung nicht an, nämlich die schwache Wirtschaft und die Arbeitslosigkeit. Um davon abzulenken, bedient sich die politische Führung einer spalterischen Politik. Doch die Bevölkerung will sich nicht auf der Grundlage ihrer Religion spalten lassen.
Was hat Sie bei diesen Protesten überrascht?
Dehlvi: Noch nie zuvor habe ich so große und spontane Proteste erlebt. Sie finden in vielen Städten überall im Land statt. Die Menschen sind wie aufgeschreckt, denn sie haben erkannt, dass dieser Schritt der Regierung zu weit geht. Obwohl Delhi zurzeit von einem besonders kalten Winter heimgesucht wird, gehen - der Kälte zum Trotz - dennoch Demonstranten zu Tausenden auf die Straße. Zudem viele Frauen an der Spitze der Proteste, selbst auf dem Campus der Jamia Millia Universität [einer traditionellen islamischen Hochschule], wo die Polizeigewalt zuletzt eskalierte.
Zum ersten Mal seit Modis Machtantritt haben die Muslime gesagt: "Genug ist genug!" Das Wunderbare daran ist, dass sich Menschen aller Religionen den Muslimen angeschlossen haben. Die Proteste sind daher mehr als nur eine rein muslimische Angelegenheit, weil die Leute begriffen haben, dass uns dieses Gesetz in eine faschistische Richtung führt.
Wie geht die Regierung mit diesem plötzlichen und anhaltenden Widerstand um?
Dehlvi: Man kann sagen, dass sie überrascht wurde. Solch Stärke und Resilienz hatte man von den Studenten nicht erwartet. Diese Regierung schien ja bislang mit allem davonzukommen: Die Entmonetarisierung [Außerkurssetzung], die Lynchmorde an Muslimen durch extremistische BJP-Unterstützer, die Abriegelung der Kaschmir-Provinz. Die Menschen hatten das hingenommen. Es gab zwar auch zuvor Proteste, aber nichts im Vergleich zu dem, was wir jetzt beobachten. Vielleicht dachten die BJP-Politiker, dass man ihnen auch dieses neue Gesetz durchgehen lassen würde. Doch inzwischen verstehen selbst Durchschnittsbürger, dass solch eine Ausgrenzung von Muslimen ein ganz und gar entzweiender Impuls darstellt. Es ist so, als ob sich nun das wahre Gesicht der BJP-Regierung offenbart. Daher macht das Volk von seinem legitimen Demonstrationsrecht Gebrauch. Ihnen dies nicht zu gestatten, wäre undemokratisch.
Denken Sie, dass die momentane Politik der Regierung, Muslime zu marginalisieren, Teil eines größeren Vorhabens ist?
Dehlvi: Ja, ganz offensichtlich. Der Plan für dieses Gesetz war bereits im Parteiprogramm der BJP verankert. Der große Zuspruch, den Modi bei den letzten Wahlen erfahren hat, gab ihm und seiner Partei die Chance, nunmehr all das umzusetzen, was sie wirklich beabsichtigten. Ihre Ideologie wurzelt in der RSS [einer hindu-nationalistischen Kaderorganisation], die, wie wir wissen, von Hitlers Ideologie inspiriert wurde. Diese BJP-affillierten Gruppen waren von Anfang an antimuslimisch eingestellt. Man hätte meinen müssen, dass eine Partei, die an die Macht kommt, gesellschaftlich verantwortlich handeln muss. Doch sie sind zu weit gegangen.
Haben Sie Angst vor zunehmender Gewalt gegenüber Muslimen?
Dehlvi: Delhi ist eine kosmopolitische Stadt und hat als Hauptstadt Indiens eine sehr gemischte Bevölkerung. Die meisten Menschen möchten in Frieden leben. Es sieht nicht so aus, als würde die BJP die Parlamentswahlen in Delhi im Februar gewinnen. Die regierende AAP ("Partei des einfachen Mannes") hat viel für die Armen getan, die Bildung verbessert, auch die Versorgung mit Elektrizität und öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Unterdrückung der Proteste war und ist am schlimmsten in all jenen Bundesstaaten, die von der BJP regiert werden. Besonders das bevölkerungsreiche Uttar Pradesh ist Hauptleidtragender der Polizeigewalt. Selbst kleine Jungen wurden erschossen oder festgenommen. In machen muslimischen Städten und wirtschaftsschwachen Gegenden ist die Polizei in Häuser eingedrungen und hat Moscheen zerstört. Die Menschen haben große Angst. Trotzdem überwinden sie ihre Furcht, denn sie wollen gehört werden.
Hat diese langfristige antimuslimische Politik auch Auswirkungen auf das reiche muslimische Kulturerbe Indiens?
Dehlvi: Nicht direkt, aber es gab Versuche, Spuren von muslimischer Geschichte zu untergraben, etwa durch das Ändern von Orts- und Straßennamen. Islamische Meisterwerke wie der Taj Mahal oder Qutub Minar jedoch lassen sich nicht einfach aus dem Weg räumen. Einerseits ist die Sprache Urdu schon seit langem bedroht. Andererseits gibt es auch so etwas wie ein Urdu-Revival. Doch leider wird Urdu nicht unterrichtet und gefördert; es überlebt lediglich als mündlich überlieferte Tradition. Und der Staat hilft nicht, dieses Erbe zu fördern, man will die Sprache eher unterdrücken. Urdu ist ein Opfer der Teilung des Subkontinents, denn Pakistan machte es zur Landessprache. Und so begannen wir, Urdu als Fremdsprache wahrzunehmen. Dabei vergessen wir, dass die Sprache eigentlich in Städten wie Delhi und Lucknow entwickelt wurde, die nun ein Teil von Indien sind.
Denken Sie, dass diese Regierung allmählich an Unterstützung verlieren wird?
Dehlvi: Viele Politiker dieser Regierung sind offensichtliche Lügner und legen Doppelzüngigkeit an den Tag. Kürzlich behauptete Modi, in Indien gäbe es keine Internierungslager für Immigranten, doch Untersuchungen haben ergeben, dass die Realität eine andere ist. Dies ist sehr beängstigend. Furcht ist eine Realität für viele in der muslimischen Bevölkerung. Manche BJP-Politiker schlugen sogar vor, auf Demonstranten zu schießen. Es gibt hier sehr extremistische Stimmen und ich hoffe, dass diese Politiker angesichts der Proteste allmählich beginnen umzudenken. Die BJP hat bei Wahlen auf Bundesstaatenebene bereits viele Stimmen eingebüßt.
Welche Rolle spielen Intellektuelle bei den aktuellen Protesten?
Dehlvi: Viele erheben ihre Stimme, nicht nur die Muslime. Unter den Intellektuellen haben sich selbst manche BJP-Unterstützer gegen das Gesetz ausgesprochen. Es ist sehr wichtig, sich friedlich zu äußern und zu schreiben. Wir haben das Recht zu protestieren. Jedes kleine Bemühen zählt. Tausende säkular eingestellte Menschen haben sich bei den Protesten mit den Muslimen solidarisiert. Das ist ein sehr gutes Zeichen.
Wie können Durchschnittsmuslime mit den Bedrohungen und Vorurteilen umgehen, denen sie ausgesetzt sind?
Dehlvi: Muslime sollten an den Demonstrationen teilnehmen und sich Gehör verschaffen. Wir müssen jedoch alle mitnehmen. Es geht hierbei nicht allein um die Muslime, sondern darum, das gesellschaftliche Zusammenleben im Land zu wahren und seine säkularen Werte am Leben zu erhalten. Mehr und mehr Menschen begreifen, dass das Vorgehen dieser Regierung sich gegen die Kernwerte unserer Verfassung richtet, insbesondere gegen Artikel 14, der besagt, dass niemand auf der Grundlage seiner Religionszugehörigkeit diskriminiert werden sollte.
[embed:render:embedded:node:38549]Ist diese Regierung Ihrer Meinung nach tatsächlich in der Lage, die jahrhundertelange interreligiöse Harmonie Indiens zunichte zu machen?
Dehlvi: Wir haben seit Jahrhunderten zusammengelebt und leben noch immer in einer pluralistischen und inklusiven Gesellschaft. Lange Zeit hat das koloniale Erbe unser Land beeinträchtigt. Wir haben eine fremde Kultur, ein fremdes Bildungs- und Parlamentssystem übernommen. Die Strategie der Briten war jene des Teilen und Herrschens. Unsere Regierung bedient sich zurzeit desselben Prinzips. Letztendlich ist dies ein Versuch, Hass unter den Menschen zu schüren. Dämonen werden erschaffen, sie wollen spalten. Hoffentlich wird das Land dem widerstehen. Die Menschen wachen jetzt auf und kämpfen um die Seele Indiens, damit diese nicht zerstört wird.
Was gibt Ihnen Hoffnung?
Dehlvi: Die Proteste geben mir Hoffnung. Wir sind eine zahlenmäßig große Minderheit von etwa zwanzig Prozent. Man kann uns also nicht so leicht loswerden. Wir sind über das ganze Land verteilt, sehr gut integriert und stolze Bürger Indiens. Wir sollten nur hoffen, dass die säkularen Kräfte gewinnen. Der Koran sagt, dass Gott uns Menschen auf die Probe stellt, jedoch auf jede Not Erleichterung folgen wird. Wir müssen uns gedulden und an unser Land, unser Volk und Gott glauben. Dies sind in der Tat harte Zeiten. Doch die Seele Indiens ist inklusiv, pluralistisch, großzügig, gastfreundlich und demokratisch. Historisch betrachtet gab es immer wieder Menschen, die Indien zu ihrem Zuhause gemacht haben. Sie alle haben ein äußerst reiches Kulturerbe erschaffen. Und genau das müssen wir bewahren. Denn es gibt Platz für uns alle.
Das Interview führte Marian Brehmer.
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Sadia Dehlvi aus Neu Delhi ist Schriftstellerin mit Schwerpunkt auf indisch-muslimischer Kultur und Sufitraditionen in Südasien. Sie ist Autorin von Büchern wie "Sufism: The Heart of Islam", einer Darstellung der mystischen Traditionen innerhalb des Islam, und "Jasmine and Jinns: Memories and Recipes of My Delhi" , einem Kochbuch, das kulinarisches Erbe mit persönlichen Memoiren verbindet. Außerdem ist sie Kolumnistin indischer Tageszeitungen wie der "Hindustan Times" und der "Times of India".