''Wir sollten den Weg der religiösen Aufklärung gehen''
Was verstehen Sie unter Fundamentalismus?
Hachem Saleh: In der arabischen Welt ist der Begriff Fundamentalismus ein Synonym für eine engstirnige Gesinnung. Wenn wir sagen, eine Person sei fundamentalistisch, dann heißt das soviel wie, sie ist engstirnig oder fanatisch in ihren religiösen Auffassungen. Für diese Person ist die Religion etwas, was das Leben erschweren und nicht erleichtern soll, obschon der Koran das Gegenteil empfiehlt. Zudem bedeutet Fundamentalismus, dass man das Heilige Buch wörtlich interpretiert und nicht im übertragenen Sinn. Das heißt wiederum, dass die wörtliche Bedeutung vor der essentiellen, tiefen Bedeutung des religiösen Inhalts Vorrang hat. Nehmen wir einmal den protestantischen Fundamentalismus in den US-Staaten: Dieser liest die Heilige Schrift wörtlich und sträubt sich dagegen, ihre Bedeutung im übertragenen Sinne zu verstehen. Im Grunde bedeutet der Fundamentalismus die Rückbesinnung auf die Fundamente der Religion und das strikte Festhalten daran. Das führt dazu, dass eine Übereinstimmung angestrebt wird zwischen den gegenwärtig vorherrschenden religiösen Überzeugungen einerseits und der kulturellen bzw. institutionellen Meinung andererseits. Letzterer wurden diese Überzeugungen irgendwann in fernen Zeiten aufgezwungen. Obgleich der Glaube eigentlich stets offen, frei und erneuerbar sein sollte.
Wir können im Zeitalter der modernen Wissenschaften und der modernen Philosophie nicht wie die Menschen vergangener Jahrhunderte an Mythen und Wunder glauben, die den physikalischen und naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten entgegenstehen. Außerdem können wir die Heiligen Schriften nicht als Schriften über die Physik, die Chemie, Biologie oder Mathematik lesen. Es sind in erster Linie Bücher für spirituelle und ethische Fragen. Der Fundamentalist hingegen glaubt, dass alle modernen Wissenschaften in der Heiligen Schrift zu finden sind.
Inwiefern ist der Fundamentalismus ein Problem für die islamische Welt?
Saleh: Der Fundamentalismus ist zu einem komplizierten Problem geworden, das sich dem Fortschritt der arabisch-islamischen Völker in den Weg stellt. Das ist darauf zurückzuführen, dass seine Vorstellungen im Widerspruch zu den Theorien der modernen Wissenschaft stehen. Was ihn aber nicht daran hindert, seine Vorstellungen als heilig, unfehlbar und nicht diskutabel zu betrachten.
Hachem Saleh ist ein in Paris lebender syrischer Denker und Übersetzer. Im Jahr 2006 erschien sein Buch "Das Problem des islamischen Fundamentalismus". Besonders hervorgetan hat sich Hachem Saleh auch als Übersetzer des algerischen Gelehrten Muhammad Arkoun ins Arabische.
Dies bedeutet für jeden Muslim eine Zerreißprobe: Übernimmt er die Lehren der modernen Welt und wendet sich von den fundamentalistischen Vorstellungen ab, bekommt er ein schlechtes Gewissen, weil diese Vorstellungen in der Gesellschaft als heilig betrachtet werden. Kehrt er aber dem modernen Denken den Rücken und unterwirft sich dem Fundamentalismus, hat er das Gefühl, sich von den Entwicklungen der Wissenschaft, Philosophie und Ratio zu entfernen. Er befindet sich dann in einem Dilemma, aus dem er nicht zu entrinnen kann. Dieses Problem kann erst gelöst werden, wenn die arabischen Denker eine neue Lesart der koranischen und islamischen Botschaft liefern: Das heißt, eine Lesart, die mit der Moderne harmoniert und nicht - wie es heutzutage der Fall ist - zu ihr im Widerspruch steht. Anders gesagt: Wir brauchen eine liberale und rationale Interpretation des Islam, die sich gegen die mittelalterliche, engstirnige Auslegung stellt, von der die arabische Welt gegenwärtig erfasst ist.
Weshalb hat man Ihrer Meinung nach nur den islamischen Fundamentalismus im Blickfeld, während der Fundamentalismus an und für sich alle Religionen und Ideologien betrifft? Hat es vielleicht damit zu tun, dass sich die Religion an der Religion rächt, so wie Gilles Kepel es formuliert hat?
Saleh: Wie ich bereits sagte: Der Fundamentalismus betrifft alle Religionsformen, nicht nur den Islam. Anders als im Islam gelang es den europäischen Christen und auch den Juden, ihre überkommenen Überzeugungen einer Kritik zu unterziehen, indem sie sie wissenschaftlichen und geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen gegenüber stellten. Das gab es und gibt es im Islam noch nicht. Doch das wird sich mit Sicherheit bald ändern. Dies ist nur eine Frage der Zeit. Der Ausdruck von Kepel "die Religion rächt sich an der Religion" bedeutet, dass die Religion mit geballter Kraft auf die Bühne zurückkehrte, obgleich wir im Zeitalter der liberalen, marxistischen und nationalistischen Ideologien eigentlich geglaubt hatten, wir hätten sie gänzlich überwunden.
Fundamentalisten wird vorgeworfen, dass sie einerseits die Moderne ablehnen, andererseits jedoch deren Instrumente und Technologien besser als jeder andere Anhänger der Moderne zu nützen wissen. Ist das nicht ein Widerspruch in sich?
Saleh: Von den modernen Wissenschaften machen sich Fundamentalisten lediglich die Technik zunutze. Die Philosophie, welche die Grundlage der Moderne bildet und deren Entstehung ermöglichte, lehnen sie strikt ab. Aus diesem Grund halten sie manche Wissenschaftler für schizophren.
Für den Theologen Hans Küng ist der durch die ökumenische Bewegung initiierte Dialog zwischen den christlichen Religionsgemeinschaften der Schlüssel für den religiösen Frieden im Christentum gewesen. Wäre das eine Voraussetzung für den Dialog zwischen den islamischen Religionsgemeinschaften einerseits und zwischen den Weltreligionen andererseits? Und wäre das Ihrer Meinung nach ausreichend, um den Fundamentalismus zu besiegen?
Saleh: Ich schätze Hans Küng sehr als einen großen christlichen Theologen. Denn er entwirft eine Theologie, die dem 21. Jahrhundert angemessen ist: Eine befreite Theologie, die dem wissenschaftlichen und philosophischen Fortschritt, den die Menschheit erzielt hat, Rechnung trägt. Hierbei setzte er sich über die mittelalterliche Theologie hinweg, die unserem Zeitalter nicht mehr entspricht. Es wäre wünschenswert, wenn es Wissenschaftler in der islamischen Welt gäbe, die wie Hans Küng den wissenschaftlichen und philosophischen Lehren gegenüber offen wären. Die ökumenische Bewegung hat die Entwicklung des europäischen Christentums mit Sicherheit positiv beeinflusst, und eine ähnliche Entwicklung sollte auch im Islam eintreten. Denn der sunnitisch-schiitische Konflikt ist im Begriff, Bürgerkriege in der gesamten Region anzuzetteln und die Gegend in Schutt und Asche zu legen.
In Ihrem Buch wird die These deutlich, dass das westliche Denken das Zeitalter der Moderne und der Postmoderne deshalb erreicht habe, weil der Fortschritt des Westens mit einem religiösen Umdenken einhergegangen sei. Müsste demnach nicht das arabisch-islamische Denken jede Hoffnung auf Fortschritt verlieren?
Saleh: Nein, wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren. Wir sollten aber den Weg der religiösen Aufklärung gehen, so wie die Industrieländer es getan haben. Tun wir dies nicht, werden wir aus dieser Einbahnstraße, in die wir geraten sind, nicht herauskommen. Und es ist nun einmal ein Fakt, dass sich die Nachfolgenden an die Fortgeschrittenen halten; das ist keine Schande, sondern ein soziologisches Gesetz, das seit Ibn-Khaldoun Bestand hat.
Wie beurteilen Sie die Aussage von Habermas, dass eine Kurskorrektur in der Globalisierung die Lösung des Terrorismus-Problems verspreche?
Saleh: Ich glaube nicht, dass Habermas das Problem des islamischen Fundamentalismus auf den wirtschaftlichen Aspekt reduziert. Denn er plädiert auch für eine Aufklärung in der islamischen Welt. Hierbei sieht er die Verantwortung in den ungerechten Auswüchsen der Globalisierung. Das muss man ihm als einem westlichen Denker hoch anrechnen, denn damit erkennt er an, dass der Westen für die hochbrisante Lage verantwortlich ist, in die wir in der arabischen Welt geraten sind. Das zeigt, dass der Fundamentalismus ein höchst kompliziertes Phänomen ist und dass innere und äußere Faktoren zugleich zu seiner Entstehung beigetragen haben. Deshalb sollte man tunlichst vermeiden, sich nur auf einen Aspekt zu beschränken.
Interview: Mohammed Massad
Aus dem Arabischen von Raoua Allaoui
© Qantara.de 2007