"Der Mord an van Gogh war für uns eine wirkliche Katastrophe"

Hätte Theo van Goghs Mörder die Filmschule durchlaufen, hätte er auf den Film "Submission" auf zivilisierte Art reagiert, glaubt Khaled Choukat, Direktor des Arabischen Filmfestivals.

​​Dr. Choukat, sieben Monate nach dem Mord an dem holländischen Filmemacher Theo van Gogh durch einen arabischstämmigen Muslim haben Sie jetzt das fünfte Arabische Filmfestival in Rotterdam organisiert. Ist der Mord an van Gogh ein Thema auf dem Festival?

Khaled Choukat: Während des letzten Arabischen Filmfestivals, also vor dem Mord an van Gogh, hatten wir ein Sonderprogramm mit dem Titel "Kino gegen den Terror" organisiert. Wir hatten irgendwie das Gefühl einer aufziehenden Gefahr.

Das Arabische Filmfestival ist ja als solches ein Kulturprojekt, das auf dem Gedanken basiert, der arabischen muslimischen Minderheit in Holland durch Kino einen Raum für den Dialog zu schaffen, und zwar als Gegenkonzept zu dem Hass und der Feindseligkeit gegenüber den Kulturen, die sich in der arabischen muslimischen Gemeinschaften in Holland und in ganz Europa entwickeln.

Ich habe im Eröffnungsartikel des Katalogs geschrieben, dass es zwischen dem Mord an van Gogh und dem Arabischen Filmfestival eine Verbindung gibt: Hätte das Arabische Filmfestival mehr Besucher aus den Reihen der arabisch-muslimischen Gemeinschaft, und hätten die arabisch-muslimischen Jugendlichen die Möglichkeit, ins Kino zu gehen, sich mit Kunst und Kultur, mit Toleranz und dem Dialog zu beschäftigen, gingen sie nicht an andere Orte, wo sie zum Mörder werden.

Der Mord an van Gogh war für uns der Beweis für die Richtigkeit unserer Aktivitäten. Nach meiner Einschätzung wäre der Mörder von van Gogh, hätte er die Filmschule durchlaufen, Regisseur oder Filmkritiker geworden und hätte auf van Goghs Film "Submission" auf zivilisierte Art reagiert.

Das arabische Filmfestival richtet sich jedoch eher an das holländische Publikum als an das arabische!

Choukat: Wir richten uns an die Holländer, gleich welcher Kultur oder Abstammung. Wir sind ein Teil der holländischen Gesellschaft. Die in Holland lebenden Araber sind holländische Bürger, und das arabische Filmfestival ist für alle Niederländer gedacht. Aber es gibt eine Art von positivem Rassismus in dem Sinne, dass die arabischen Muslime eine wirtschaftlich und gesellschaftlich degradierte Schicht bilden und unter ganz besonderen Problemen leiden. Deshalb sollte es genau für diese Schicht einige kulturelle Projekte geben, um sie sozusagen auf den Stand der sie umgebenden Gesellschaft zu heben.

In den Niederlanden lebt etwa eine Million Muslime. Spüren diese nach dem Mord an van Gogh ein größeres Misstrauen von Seiten der Holländer?

Choukat: Nach dem Mord an van Gogh habe ich in einem Artikel geschrieben, dass der Mörder van Goghs nicht nur van Gogh getötet habe, sondern die arabisch-muslimische Minderheit, und dass er der politischen Rechten ermöglicht hat, radikale rassistische Gedanken wieder aufleben zu lassen. Er trug dazu bei, ein negatives Klima im Land zu schaffen, unter dem in erster Linie die Muslime zu leiden haben.

Wer glaubt, dass der Mörder van Goghs sich für den Islam und die Muslime gerächt habe, der liegt vollkommen falsch. Er hat ihnen geschadet, indem er glaubte, dass er seiner Religion und seiner Gemeinschaft nützen würde. Er hat ihnen sogar großen Schaden zugefügt, kulturell, moralisch und wirtschaftlich. Der Mord an van Gogh dient nun als Vorwand für die Rücknahme vieler gesetzlicher Errungenschaften, die die Araber und Muslime erreicht hatten: das Bewahren ihrer kulturellen und religiösen Identität. Der Mord an van Gogh war für uns eine wirkliche Katastrophe.

Was gibt es denn für einen Unterschied zwischen den Muslimen Hollands und den anderen Ausländern, wie den Einwanderern von den Molukken und aus Surinam?

Choukat: Die Sprache ist ein entscheidender Faktor. Die Einwanderer von den Molukken sind diejenige Gruppe der indonesischen Gesellschaft, die Jahrhunderte lang für die holländische Kolonialverwaltung gearbeitet hat. Sie hatten also, als sie hierher kamen, keine Sprachprobleme. Sie haben wieder in den gleichen Bereichen gearbeitet: zuerst für die holländische Kolonialverwaltung, und hier sind sie Angestellte der holländischen Verwaltung. Das Gleiche gilt für die Einwanderer aus Surinam, denn dort war die vorherrschende Sprache auch Holländisch.

Bei den Arabern und Muslimen ist es etwas anderes. Sie kamen in den sechziger und siebziger Jahren als einfache Arbeiter aus Marokko oder der Türkei, um für einige Zeit in den holländischen Fabriken zu arbeiten. Sie hatten nie geplant, sich als Bürger hier niederzulassen, und das war ihnen auch gar nicht möglich bzw. erst seit Ende der achtziger Jahre. Sie sind eine viel kürzere Zeit im Land und haben kaum Kontakte zur holländischen Bevölkerung und Verwaltung.

Sind Sie also dafür, dass Neueinwanderer erst einmal einen intensiven Sprachkurs absolvieren müssen?

Choukat: Die Gruppe, die besondere Beachtung erfahren muss, das ist die zweite, dritte und vierte Generation. Die Alten können die Sprache nicht mehr richtig lernen und sich integrieren. Außerdem haben sie eine sehr starke Bindung zu ihrem Heimatland; sie leben hier in Holland oder in Deutschland oder sonst wo in Europa, als wären sie im Urlaub und immer in der Erwartung zurückzukehren. Europa ist für sie eine sichere Basis, wo sie ihr tägliches Brot verdienen.

Man muss sich jetzt auf den Dialog mit den nachfolgenden Generationen konzentrieren. Wir müssen die Schulen unterstützen, in denen es viele Schüler arabischer und muslimischer Abstammung gibt. Wir müssen ihnen eine gute Ausbildung anbieten, die ihnen Perspektiven in der Schule und der Universität eröffnet. Stellen Sie sich das Ausmaß der Katastrophe vor: Von tausend muslimischen Schülern, die eingeschult werden, kommt nur ein einziger auf die Universität.

Welchen Grund sehen Sie dafür?

Choukat: Es gibt viele Gründe: Zum Beispiel die Armut der Eltern. Die muslimischen Ausländer sind wirtschaftlich gesehen die ärmste Schicht. So können sie ihren Kindern natürlich keine Atmosphäre für eine gute Bildung schaffen. Diese Eltern sprechen die Sprache ihres Heimatlandes, während die Kinder in der Schule und auf der Straße mit Holländisch aufwachsen. So wird nach und nach die Möglichkeit des Dialogs zwischen diesen beiden Generationen immer geringer.

Hinzu kommen negative Faktoren in der hiesigen Gesellschaft wie der 'kalte Rassismus'. Wenn Sie mit jungen Marokkanern oder Türken sprechen, werden Sie feststellen, dass sie keine holländischen Freunde haben, sondern sich in ihren geschlossenen Gesellschaften bewegen, in denen sie unter ihrem Abscheu und Hass auf diese Gesellschaft leiden, die ihren Eltern - und damit auch ihnen - Unrecht tat.

Die Abgeordnete somalischer Abstammung Ayaan Hirsi Ali hat den Film "Submission" zusammen mit Theo van Gogh gemacht und will nun auch einen geplanten zweiten und dritten Film produzieren. Glauben Sie, Hirsi Ali kann als Brücke zwischen den Niederländern und der muslimischen Minderheit fungieren?

Choukat: Ayaan Hirsi Ali ist meiner Meinung nach nur eine laute Stimme. Sie kommt von außen und hat schlechte Beziehungen zu der Gruppe, die sie eigentlich verändern möchte. Wenn man etwas verändern möchte, muss man darauf achten, ruhig und nicht provokativ zu argumentieren. Mit ihrem Diskurs provoziert sie aber, schafft Konflikte und sorgt für Spannungen.

Das alles ist nicht hilfreich für das, was sie eigentlich will, nämlich sich für die Befreiung der Frau engagieren, für eine Entspannung der Situation und für die Verbreitung von Werten wie Freiheit und Liberalität innerhalb der arabisch-muslimischen Gemeinschaft. In Wirklichkeit hört niemand auf sie. Wenn man von Anfang an psychologische und moralische Barrieren zwischen sich und denen, die man verändern möchten, aufbaut, wird man nicht gehört.

Die Medien in Holland - und auch in Deutschland - räumen ihr aber großen Raum ein. In Deutschland ist kürzlich ihr Buch erschienen, und zwar - und das ist etwas Besonderes - auf Deutsch und auf Türkisch.

Choukat: Es gibt viele, die in den Medien Raum erhalten. Die Medien sind eine Maschine, die es nicht als ihre Aufgabe betrachtet, etwas zu verändern, sondern eine größere Anzahl an Zuhörern, Zuschauern und Lesern zu erhalten. Die Medien sind immer auf der Suche nach dem Außergewöhnlichen und Sensationellen.

Da war zum Beispiel der Fall des Scheichs Khalil al-Mumani. Er hatte Homosexuelle als krank bezeichnet. Das hat großes Aufsehen in den Medien erzeugt, etwa ein Jahr lang haben sie sich mit ihm beschäftigt. Und je angespannter die Situation wurde, desto aktiver wurden die Medien. Positive Ereignisse und Initiativen aber, wie etwa das Arabische Filmfestival, werden kaum beleuchtet.

Brauchen wir Ihrer Meinung nach einen "Europäischen Islam"?

Choukat: Ich glaube, dass der religiöse Text ein neutraler Text ist, und dass das Problem nicht beim Text, sondern in der Interpretation liegt. Wenn wir den Islam tolerant auslegen wollen, so ist das möglich. Welchen Unterschied gibt es denn zwischen dem Koran und der Thora oder dem Evangelium? Die Unterschiede liegen in Details und nicht in der Wahrheit des Textes. Die Quellen sind dieselben. Genau wie die Christen das Alte und das Neue Testament negativ ausgelegt haben, genau so haben sie es positiv ausgelegt.

Wenn "Europäischer Islam" bedeutet: die Integration der Muslime als Bürger in die europäischen Gesellschaften und den Glauben an Säkularismus, Demokratie und die Grundlagen, auf denen die Zivilisationen in dieser Weltregion basieren, dann ist ein europäischer Islam notwendig.

Was sollten nun beide Seiten - die Muslime und die europäischen Gesellschaften - für den Dialog tun?

Choukat: Die Muslime müssen akzeptieren, dass in den Gesellschaften, in denen sie leben, Werte wie Demokratie und Säkularismus die Grundlage bilden, und dass diese Werte für eine pluralistische Gesellschaft notwendig sind. Diese gilt es nicht anzutasten.

Auf der anderen Seite sollten die Europäer nicht aus rassistischer Überheblichkeit heraus agieren, sondern positive Initiativen unterstützen. Sie sollten diese Minderheiten als Teil ihrer Gesellschaft betrachten, die ihren Anteil an der Entwicklung auf allen Ebenen haben müssen.

Interview und Übersetzung aus dem Arabischen: Larissa Bender

© Qantara.de 2005

Dr. Khaled Choukat ist Direktor des arabischen Filmfestivals in Rotterdam und Direktor des "Zentrums für die Unterstützung der Demokratie in der arabischen Welt". Er vertritt außerdem als Abgeordneter die Partei der Grünen im Rotterdamer Stadtparlament.

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Arabisches Filmfestival Rotterdam (engl.)
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