"Mir geht es um eine zeitgemäße Deutung des Islam"

Mouhanad Khorchide wird neuer Professor für islamische Religionspädagogik in Münster und tritt damit die Nachfolge des in muslimischen Kreisen umstrittenen Sven Kalisch an.

Interview von Kersten Knipp

Herr Khorchide, von welchen theologischen und pädagogischen Prinzipien werden Sie sich in Ihrem neuen Amt leiten lassen?

Mouhanad Khorchide: Ich werde eine humanistische Theologie vertreten. Meiner Auffassung nach ist die Religion für den Menschen da – und nicht umgekehrt der Mensch für die Religion. Darum liegt mir an einer Theologie, die nach den spirituellen ebenso wie den Alltagsbedürfnissen des Menschen fragt. Es geht nicht um die Vermittlung von Gesetzen und Dogmen. Ich will ein Islambild vermitteln, das nichts mit einer Gesetzesreligion zu tun hat. Ein solches theologisches Verständnis lässt sich zudem bestens mit den Prinzipien des Verfassungsstaats und dem Leben in einer pluralen Gesellschaft vereinbaren.

Wie wird sich das in Ihrer Lehre auswirken?

Khorchide: Mir geht es um eine moderne Religionspädagogik. Mir schwebt ein Religionsunterricht vor, der von der Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler ausgeht. Ich will die Religion mit der Lebenswirklichkeit der Studenten und Schüler verbinden, anstatt ihnen nur religiöse Gesetze einzuimpfen. Dafür ist Religion nicht da.

Zugleich haben viele Kinder muslimischer Migranten das Problem, die Sprache ihrer Eltern – in den meisten Fällen also Türkisch oder Arabisch – nicht hinreichend zu beherrschen. Ihre Sprachkenntnisse reichen nicht aus, um etwa der Predigt eines Imams in einer Moschee folgen zu können. So bleiben viele Bedürfnisse offen. Aufgabe des islamischen Religionsunterrichts ist es, auf diese Bedürfnisse einzugehen. Moderner Religionsunterricht sollte auf die Jugendliche zugehen und sie befähigen, selbst aktiv ihre Religiosität zu gestalten. Und er sollte sie auch befähigen, persönliche Gotteserfahrungen zu machen. Er soll sie in dieser Hinsicht nicht bevormunden.

Wie beurteilen Sie den Religionsunterricht, den die Moscheen in Deutschland anbieten?

Khorchide: In den Moscheen wird zwar ausgiebiger Religionsunterricht erteilt. Aber diese Angebote sind meistens nicht jugendorientiert. Sie sind meistens dogmatisch und predigen einen Islam, mit dem viele Jugendliche nicht viel anfangen können. Deshalb – und das zeigen auch die einschlägigen empirischen Studien – distanzieren sich viele Jugendliche vom Islam, verlieren das Interesse an religiösen Fragen. Sie wollen keine Religion, die ihnen Restriktionen auferlegt. Stattdessen wünschen sie sich eine Religion, die für sie da ist, die Verständnis für ihre Anliegen hat.

In welchem Verhältnis sollten der Unterricht in den Moscheen und der an den Schulen stehen?

Khorchide: Sie sollten einander ergänzen, ein komplementäres Verhältnis zueinander entwickeln. Meines Erachtens sollte der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen den in den Moscheen gelehrten nicht ersetzen. Ebenso wenig sollte er dazu dienen, die Kinder aus den Moscheen rauszuholen.

Außerdem zeugt die Praxis, dass dies nicht funktioniert. Das setzt allerdings voraus, dass eine konstruktive Kooperation mit den Moscheegemeinden stattfindet. Wir müssen einen Konsens anstreben. Ansonsten bekommen die Schüler in den Moscheen womöglich zu hören, der ein oder andere Unterricht sei nicht authentisch oder islamisch genug. Die Religion könnte dadurch ihre Glaubwürdigkeit bei den Schülern verlieren. Das müssen wir verhindern.

Wie beurteilen Sie den derzeitigen Dialog der Religionen in Deutschland?

Khorchide: Hier in Deutschland kommuniziert man sehr intensiv miteinander. Ein positives Beispiel dafür ist die Islamkonferenz. Ein anderes stellen die zahlreichen interreligiösen Dialogveranstaltungen und –initiativen dar, die regelmäßig stattfinden und von Staat stark gefördert werden.

Und wie sehen Sie die Rolle der muslimischen Verbände?

Khorchide: Die muslimischen Verbände haben sich in den letzten Jahren viel stärker geöffnet. Sie sind viel mehr als vor zehn oder fünfzehn Jahren am Dialog interessiert. Ich würde mir dennoch wünschen, dass sie sich stärker theologischen Fragen widmen. Das vermisse ich teilweise. Sie wollen die Muslime politisch vertreten. Das ist gut. Aber das reicht nicht aus. Sie müssen sich auch theologischen Debatten öffnen – und zwar nicht nur interreligiösen Debatten, sondern auch den innerislamischen. Es geht darum, eine gemeinsame theoretische Basis für die Zukunft des Islams in Europa zu schaffen.

Wie sehen Sie das Verhältnis von Islam und Moderne? Was sind für Sie die Prinzipien einer zeitgemäßen Deutung des Islam?

Khorchide: Der Koran gilt als Gottes Wort. Als Theologe beschäftigt mich die Frage, wie wir mit diesem Gotteswort umgehen. Wie können wir es angemessen verstehen? Sollen wir den gesamten Koran wortwörtlich verstehen? Sollen wir alles, was im 7. Jahrhundert offenbart wurde, auch die juristischen Einzelanweisungen, zum Beispiel im Strafrecht, heute eins zu eins übertragen? Ich glaube nicht. Mir geht es um eine zeitgemäße Deutung des Islam.

Und die sollte danach fragen, welche Antworten in welchem gesellschaftlichen Kontext auf welche Fragen gegeben wurden. Wir müssen verstehen, welche Anliegen die Menschen damals hatten – und welchen Sinn die damals gegebenen Antworten. Auf Grundlage dieser Hermeneutik können wir uns dann fragen, welchen Sinn die heiligen Texte heute haben.

Als gläubiger Muslim und Theologe gehe ich davon aus, dass der Koran das Gotteswort nicht nur für die Menschen des 7. Jahrhunderts, sondern auch für uns heutige Menschen ist. Um diese Frage aber zu beantworten, muss man den Koran in seinem historischen Kontext lesen. Unterlässt man das, kann man ihn nicht angemessen begreifen.

Ist eine solche Hermeneutik in der islamischen Welt anerkannt?

Khorchide: Die Muslime hatten bereits im 8. Jahrhundert eine eigene Hermeneutik entwickelt. Sie fragte nach den Anlässen der Offenbarung. Leider wurde diese Tradition nicht weiter verfolgt, sie ging unter. Deswegen plädiere ich heute umso mehr für eine historisch-kritische Methode. Denn die brauchen wir unbedingt. Allerdings missverstehen viele Muslime diesen Begriff. Sie glauben, "historisch-kritisch" bedeute, der Koran sei historisch geworden und gehe uns heute nichts mehr an. Und "kritisch" meine nichts anderes, als dass es gestattet sei den Koran einfach zu widerlegen. Das ist ein schlichtes Missverständnis.

Tatsächlich meint der Begriff ja nichts anderes, als dass wir den historischen Kontext gründlich untersuchen müssen. Unsere Aufgabe muss es sein, den Geist hinter den Buchstaben zu finden. Es geht um die allgemeinen Prinzipien, die der Koran verkündet. Wie die Menschen diese Prinzipien dann in ihrem Alltag umsetzen, das hängt vom jeweiligen Kontext ab.

Interview: Kersten Knipp

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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