Die Spaltung von Sunniten und Schiiten überwinden
Herr Qoja, Sie sind heute unter anderem für die Restauration der auf einem Hügel mitten in Erbil gelegenen Zitadelle zuständig, einem der am längsten durchgängig bewohnten Orte der Welt. Die Zitadelle zählt seit 2014 zum Unesco-Weltkulturerbe. Wie wollen Sie dieses Erbe erhalten?
Nihad Salim Qoja: Die Zitadelle hat einen Masterplan, der von uns erarbeitet wurde, allerdings konnten wir in den letzten fünf Jahren nur wenig restaurieren. Zuerst wegen des Kriegs gegen den "Islamischen Staat" (IS) und dann, weil uns das Geld fehlte. Wir wollen bis Ende 2020 die Infrastruktur fertigstellen, also Kanalisation, Wasser, Internet und Strom. Danach sollen Kulturzentren, Restaurants und Kaffeehäuser entstehen. Das alte Bad, das Hammam, wird restauriert und soll bald den Betrieb aufnehmen. Weil die Zitadelle der älteste bewohnte Ort der Menschheit ist, haben wir symbolisch noch eine Familie dort leben. In Zukunft sollen in etwa 40 bis 50 Häusern Familien leben, außerdem soll es Häuser für Maler und andere Künstler geben.
Welche symbolische Bedeutung hat die Zitadelle für die Kurden?
Qoja: Ich betrachte es anders: Die Zitadelle ist ein Kulturerbe der gesamten Menschheit. Es haben viele Völker dort gelebt. Wir haben diese Kultur geerbt, und wir werden auch dieses Zusammenleben beibehalten und weiter unterstützen. Das ist die symbolische Bedeutung der Zitadelle, und sie hat auch eine Auswirkung: Erbil ist bekannt in der Region als Stadt des Zusammenlebens aller Religionen und Völker.
Erbil liegt nur 80 Kilometer von der Stadt Mossul entfernt, die von 2014 bis 2017 unter Kontrolle der IS-Terroristen stand. Welche Auswirkungen hatte das?
Qoja: Erbil hat viele Flüchtlinge aufgenommen, das war für uns eine große Herausforderung. Aber ich kann Ihnen ein Beispiel geben, wie die Stadt damit umgegangen ist. Als zu Beginn der Krise die erste Flüchtlingswelle kam, war Mitternacht, und ohne jede Aufforderung haben die Märkte geöffnet und die Familien mit Nahrungsmitteln, Milch und Windeln für die Kinder und anderen Dingen versorgt.
Die Geflüchtetenzahlen sind nicht sehr viel weniger geworden. Wie stellt sich die Lage derzeit dar?
Qoja: Wir haben immer noch etwa 450.000 Flüchtlinge. In Erbil wohnen seit zehn Jahren auch viele Flüchtlinge aus dem Zentral- und Südirak. Die gehen nicht mehr zurück, die haben hier Häuser gekauft, ihre Kinder gehen hier zur Schule, sie sind ein Teil der Stadt geworden. Und das ist eine Bereicherung für die Stadt Erbil, kulturell, finanziell, ganz allgemein. Darauf sind wir als Erbilis stolz, das ist Teil unserer Geschichte. In Erbil achtet keiner auf Farbe oder Religion.
Wie strahlen die Proteste in Bagdad und den Städten des Südirak nach Kurdistan aus?
Qoja: Seit 2003 gibt es große Unterschiede zwischen der Region Kurdistan und dem Rest-Irak. Hier hat man ab 2004 den Wiederaufbau begonnen, die kurdischen Städte blühen. Im restlichen Irak hat die Regierung in Bagdad keinen Stein aufeinander gelegt, im Gegenteil. Wir haben Verständnis dafür, dass die Leute jetzt auf die Straße gehen, es ist auch deren Recht. Sie haben unsere volle Unterstützung. Die meisten Jugendlichen sind arbeitslos, sie wollen ein würdiges Leben in ihrem eigenen Staat führen. Der Irak ist ein reiches Land, jeder fragt sich, wohin fließt das Geld überhaupt? Krankenhäuser, Schulen, Kulturzentren, soziale Institutionen sind in marodem Zustand, und das darf im Irak nicht passieren.
Die Korruption ist eines der drängendsten Probleme im Irak.
Qoja: Natürlich. Wir in der Region Kurdistan bestreiten nicht, dass es auch hier Korruption gibt, aber das Maß im Rest-Irak ist gewaltig. Außerdem wollen die Irakerinnen und Iraker, dass sie selbst das Land regieren. Jeder weiß, dass der Iran seit über zehn Jahren die Kontrolle im Irak innehat. Bis heute hat kein Ministerpräsident die Macht übernommen ohne Zustimmung des Iran. Und das muss ein Ende haben. Wir sind es, die unser Land bestimmen müssen.
Wie – und wann – kann das geschehen?
Qoja: Zeitlich kann man das nicht festlegen. Aber die Bereitschaft der Menschen, ihr Leben für ihre eigene Würde und ihr Selbstbestimmungsrecht in Gefahr zu bringen, ist ein Zeichen dafür, dass die Hegemonie des Iran im Irak ein Ende findet. Früher oder später.
Viele Demonstrierende sprechen davon, die Spaltungen von Sunniten und Schiiten endlich zu überwinden, sie wünschen sich einen geeinten Irak. Diese Formulierungen richten sich also direkt gegen die iranische Einflussnahme?
Qoja: Natürlich, klar. Es ist eine Tatsache, dass der Einfluss des Irans in den kurdischen Gebieten nicht so stark ist wie im restlichen Irak. Aber auch hier wünscht jeder Bürger, dass die Iraner den Irak in Ruhe lassen, dass das irakische Volk selbst bestimmen kann, was es sich wünscht.
Wünschen Sie sich etwas von Deutschland?
Qoja: Nach meiner Kenntnis hat Deutschland den Irak nach 2003, besonders in den kurdischen Regionen, stark unterstützt. Der große Einfluss des Iran hat aber nicht nur Deutschland, sondern auch andere demokratische Staaten zum Teil daran gehindert, irakische Institutionen zu stärken und bei ihrem Ausbau zu helfen. Unser Wunsch ist, dass Deutschland weiterhin die Neuentwicklung im Irak unterstützt. Auch politisch sollte Deutschland sehr stark im Irak repräsentiert sein und beim Aufbau des Landes noch mehr tun als bis jetzt.
Ist das einer der Fehler, die gemacht wurden?
Qoja: Man hat sich zu wenig involviert. Mir ist natürlich bekannt, dass die deutsche Außenpolitik neutraler ist als die anderer Staaten, das hat historische Gründe. Aber das sollte nicht verhindern, dass sich Deutschland gemeinsam mit anderen demokratischen Staaten stark im Irak einbringt.
Das Gespräch führte Christopher Resch.
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Nihad Latif Qoja war seit 2004 Bürgermeister von Erbil, Hauptstadt des kurdischen Gebiets im Irak und Sitz der autonomen Region Kurdistan. 1981 war der ehemalige Sportlehrer vor dem Saddam-Regime nach Deutschland geflohen und lebte mehr als zwei Jahrzehnte lang in Bonn, wo er u.a. an der Gründung von "NAVEND - Zentrum für Kurdische Studien e.V." beteiligt war. 2017 erhielt er das Bundesverdienstkreuz.