„Mein Vorschlag: eine Gauck-Behörde in Damaskus”
Qantara: Herr Hajo, wie schätzen Sie die Chancen auf ein demokratisches Syrien im Moment ein?
Siamend Hajo: Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass Assads brutales Schreckensregime ein Ende gefunden hat. Aber wenn man sich den radikalislamischen Hintergrund der neuen Machthaber ansieht, habe ich wenig Hoffnung. Bis jetzt geben sie sich sehr gemäßigt. Die Frage ist, ob das nur der Anfang ist. Nach der iranischen Revolution war die Situation nicht unähnlich. Der Revolutionsführer Ruhollah Chomeini hat sich am Anfang sehr liberal gezeigt, hat mit den Kommunisten und den Kurden zusammengearbeitet. Sobald seine Macht gefestigt war, hat er ein Schreckensregime aufgebaut.
Sie sind im Vorstand des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien (EZKS) in Berlin. Seit 2016 unterstützten Sie mit dem Projekt „Power Sharing for a United Syria“ die syrische Zivilgesellschaft bei der Erarbeitung einer neuen Verfassung. Wie sah diese Arbeit aus?
Wir haben regelmäßig Workshops organisiert, in denen Expert:innen mit Vertreter:innen der syrischen Opposition und Zivilgesellschaft zusammenkamen. In Genf bestand seit 2015 ein auf Grundlage der UN-Resolution 2254 einberufenes syrischen Verfassungskomitee. Die Resolution besagte, dass es eine neue syrische Verfassung und eine Übergangsregierung geben soll, legitimiert durch Wahlen unter UN-Schirmherrschaft. Wir konnten zu diesem Prozess beitragen und waren als Berater:innen vor Ort.
Das Komitee bestand aus der syrischen Regierung, Opposition und Zivilgesellschaft. Mit den beiden letzteren Gruppen haben wir an Grundprinzipien für eine dezentralisierte Verfassung gearbeitet. Zum Beispiel zu Themen wie Minderheitenschutz, Föderalismus, Gewaltenteilung, lokale Demokratie.
Die Assad-Regierung boykottierte diese Prozesse und die UN hatten keine Mechanismen, das zu ahnden. In den UN-Prozess waren damals auf Grund ihrer Nähe zum Assad-Regime beziehungsweise zu oppositionellen Gruppen auch Russland, Iran und die Türkei eingebunden. Die jetzt regierende Hayat Tahrir al-Sham (HTS) hingegen war nicht vertreten.
Angenommen, es wird einen verfassungsgebenden Prozess geben, wie Ahmad al-Sharaa im Interview mit dem TV-Sender Al Arabiya Ende Dezember ankündigte. Was kann von Ihrer Arbeit jetzt angewandt werden?
Wie auch al-Sharaa (früher bekannt als al-Jolani) ansprach, braucht Syrien jetzt ein Komitee, das eine neue Verfassung entwirft. Wir als EZKS haben gemeinsam mit Mitgliedern der syrischen Opposition und Zivilgesellschaft nicht nur eine Verfassung für Syrien ausgearbeitet, sondern auch eine Regionalverfassung für eine potenzielle kurdische Region. Beide Dokumente können jetzt als Diskussionsgrundlage dienen.
Anscheinend werden diese Dokumente tatsächlich gebraucht. Letzte Woche rief mich ein Vertreter des Kurdischen Nationalrats an und bat mich, ihm Dokumente zu schicken, die wir 2016 gemeinsam in Genf erarbeitet hatten. Sie enthalten Antworten auf Fragen wie „Was ist Föderalismus?“ und „Was versteht der Nationalrat unter Föderalismus?“.
Warum ist Ihnen ein dezentral regiertes Syrien wichtig?
Es ist meiner Meinung nach ein Problem, dass Syriens neue Machthaber sich klar für ein zentralistisch geführtes Syrien stark machen. Das würde bedeuten, dass die Macht in Damaskus zentriert ist und auf regionaler und lokaler Ebene keine Entscheidungen getroffen werden.
Mein Anspruch an Demokratie ist es, Entscheidungskompetenzen soweit es geht auf die lokale Ebene zu verlagern. Die Leute vor Ort wissen beispielsweise besser, wo eine Schule gebraucht wird als eine zentrale Behörde in Damaskus. Außerdem ist ein zentralistisch geführtes Land anfälliger für Korruption und es kann weniger gut auf die individuellen Bedürfnisse von Menschen eingehen.
Wie schätzen Sie die Politik der UN seit dem Regimesturz am 8. Dezember ein?
Ich halte sie für problematisch. Eine Gruppe, die von den UN als terroristisch eingestuft ist, kommt an die Macht und den UN fällt nichts Besseres ein, als sofort zu ihnen zu laufen, praktisch vor ihnen auf die Knie zu fallen.
Das ist ein falsches Signal für die Syrer:innen, aber auch generell. Es sagt aus: Eine Organisation kann terroristisch sein, Menschenrechte verletzen und Menschen verfolgen, aber sobald sie an die Macht kommt, ist das vergessen. Terror wird dadurch legitimiert. Die aktuelle Politik macht die UN und Europa unglaubwürdig.
Was sollten die UN stattdessen tun?
Sie hätten nach Assads Sturz erst einmal Distanz wahren müssen. Auf al-Sharaa war von den USA bis zum 21. Dezember 2024 noch ein Kopfgeld von 10 Millionen US-Dollar ausgesetzt. Bis heute steht die HTS auf der UN-Terrorliste. Trotzdem traf sich Geir O. Pedersen, der UN-Sondergesandte für Syrien, schon am 15. Dezember mit al-Sharaa und ließ sich mit ihm fotografieren. Die Frauendelegation, die ihn begleitete, hat extra Kopftuch getragen.
„Aleppo zeigt, wie schwach Assad ohne Verbündete ist“
Elham Ahmed, Außenbeauftragte von Nordostsyrien, sorgt sich nach der Eroberung Aleppos um die pluralistische Identität der Stadt. Im Qantara-Interview skizziert sie ihre Vision eines dezentralisierten Syriens und äußert sich zu deutschen Debatten über die Abschiebung krimineller Geflüchteter.
Natürlich wollen internationale Organisationen jetzt Einfluss auf die HTS nehmen und die eigenen Erwartungen kommunizieren. Aber die UN sollten klar signalisieren, dass die neuen Machthaber unter Beobachtung stehen und dass es keine diplomatischen Kontakte oder offiziellen Treffen gibt, wenn jetzt keine demokratischen Strukturen aufgebaut werden.
Wie bewerten Sie Deutschlands Politik gegenüber den neuen Machthabern in Syrien?
Deutschland hat 60 Millionen Euro zugesagt, die, nach aktuellem Stand, nicht an staatliche Institutionen vergeben werden. Stattdessen fließen beispielsweise 25 Millionen an das UN-Kinderhilfswerk Unicef und 19 Millionen an die UN-Entwicklungsorganisation UNDP, der Rest an lokale, kleinere Organisationen. Das begrüße ich sehr. Wenn man staatliche Institutionen finanziert, dann nur unter der Prämisse, dass es für den Aufbau eines modernen Staatsapparats verwendet wird und nicht für islamistische Strukturen.
Auch die Äußerungen von Frau Baerbock nach ihrem Besuch in Damaskus am 3. Januar, dass Minderheiten, darunter die Kurd:innen, geschützt und politisch integriert werden sollen, sind sehr zu begrüßen. Die aktuelle Regierung in Syrien muss wissen, dass die Gelder für den Wiederaufbau nur dann fließen, wenn sie sich an Werte wie Menschenrechte, Gleichstellung der Geschlechter und Minderheitenschutz hält.
Welche Rolle kann Deutschland beim Wiederaufbau über finanzielle Unterstützung hinaus spielen?
Deutschland kann im Bereich Aufarbeitung und Vergangenheitsbewältigung helfen, aufgrund der eigenen Erfahrung mit der kritischen Auseinandersetzung mit Geschichte. Der erste Schritt wäre, Dokumente des alten Regimes zu sichern und zu archivieren. Viele Dokumente der syrischen Archive und aus den Geheimdienststellen wurden nach dem 8. Dezember 2024 vernichtet oder gingen im Chaos verloren.
Im zweiten Schritt braucht Syrien eine Debatte darüber, was man für wen zugänglich macht und was nicht. Schließlich handelt es sich um sensible Informationen. Die Deutschen haben sich nach NS- und SED-Herrschaft intensiv mit dieser Frage auseinandergesetzt und Erfahrungen gesammelt, wie man verantwortungsbewusst mit solchen Dokumenten umgeht.
In der deutschen Gauck-Behörde, also dem Archiv für Stasi-Unterlagen, wurden viele Namen der Opfer aus Gründen des Persönlichkeitsrechts geschwärzt. Die Namen der Stasi-Informant:innen hingegen kann man einsehen. Mein Vorschlag ist, in Damaskus eine Institution nach Vorbild der Gauck-Behörde aufzubauen.
Wie hat das EZKS auf den Sturz Assads reagiert? Was planen Sie?
Wir haben unsere Arbeit in Damaskus wieder aufgenommen, einige Mitarbeiter:innen und ich waren letzte Woche vor Ort, um uns einen Überblick zu verschaffen. Unser Plan ist, ein Demokratie-Zentrum aufzubauen, das „Zentrum für demokratische Bildung“, dafür haben wir Fördergelder des Auswärtigen Amts beantragt.
In diesem Zentrum wollen wir die erarbeiteten Verfassungsprinzipien, das Lehrmaterial und die Erfahrungen, die wir während der Jahrzehnte im Exil gemacht haben, zur Verfügung stellen. Außerdem würden wir unsere Dialogworkshops mit syrischen und ausländischen Expert:innen in Damaskus anbieten.
Die Ungewissheit der Freiheit
Zu Besuch im Folterkeller des Assad-Regimes, bei Kalaschnikow schwingenden Rebellen und einem ängstlichen Erzbischof. Karim El-Gawhary berichtet aus dem „neuen Syrien“. Eine historische Momentaufnahme.
Zum Beispiel einen Workshop mit Studierenden, bei dem es darum geht, wie man eine demokratische Universität aufbaut und welche Mitbestimmungsmöglichkeiten Studierende haben. Dasselbe für Schulen oder demokratische Gewerkschaften. Es soll um die Frage gehen, wie „Demokratie von unten“ geht und wie Entscheidungen auf lokaler Ebene getroffen werden können.
Kann diese Arbeit auch die Aufarbeitung der Verbrechen des Assad-Regimes unterstützen?
Ja, nach demselben Prinzip. Es gibt in Deutschland viele Expert:innen, die sich bestens damit auskennen, wie man Dokumente aufbewahrt und wie man Räume für eine Erinnerungskultur schafft. Die könnten wir einladen, um den Verantwortlichen vor Ort das Know-how zu vermitteln. In diesem Bereich können wir auch die syrische Verwaltung oder die Ministerien unterstützen.
Das EZKS und viele andere syrische Exilorganisationen sind bemerkenswert schnell wieder in Syrien aktiv geworden. Gibt es ein Gefühl des „jetzt oder nie“?
Wir befinden uns in einer Übergangsphase, in der vieles noch möglich ist. Diese Phase sollten wir nutzen. Man weiß nicht, was in fünf, sechs Monaten ist. Falls es zu neuen autoritären Strukturen kommt, ist es vielleicht schwieriger, die bis dahin schon geleistete Arbeit im Nachhinein zu verbieten.
Außerdem müssen wir uns vor Augen führen, dass hunderttausende Menschen noch immer als verschwunden gelten. Aus den Dokumenten der Geheimdienste ist das Schicksal dieser Menschen wahrscheinlich ersichtlich. Ihre Angehörigen haben ein Recht darauf, zu erfahren, warum jemand festgenommen wurde, wer gefoltert und wo im Gefängnis war. Die Gefahr ist, dass die Beweise jetzt verschwinden, deswegen muss man schnell handeln.
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