Erst Lehrtheater, dann die Kunst
„Das Warten macht die orientalische Gesellschaft kaputt. Ich habe schon drei Stücke über das Warten gemacht. Und ich werde noch ein viertes machen!“, sagt Ihsan Othmann, der als Regisseur seit vielen Jahren zwischen Berlin und Irak unterwegs ist. Wir sitzen wegen eines irakischen Theatertreffens in Berlin-Kreuzberg vor dem Aufbau-Theater und warten auf Heewa Suaad Al-Hamawandi, Leiter des internationalen Theaterfestivals in Erbil, Kulturpolitiker und Regisseur.
Wie diese Funktionen alle unter einen Hut passen? Diese Frage wird nie gestellt werden, denn Al-Hamawandi lässt den Termin verstreichen. Außerdem wird noch der Bagdader Schauspieler und Regisseur Sinan Al Azzawi erwartet. Die drei Theatermänner haben ein gemeinsames Interview zur Situation der irakischen Theaterszene und zum künstlerischen Dialog zwischen Erbil und Bagdad zugesagt. Bis Al Azzawi erscheint, bleibt genügend Zeit, um eine Geschichte über das Warten zu erzählen.
Riskante Reise
Vor Kurzem war Ihsan Othmann mit seiner deutschen Schauspielergruppe noch in Bagdad und Erbil auf Tour. Sein Stück „Bernada Albas Haus“ wurde gerade auf dem 17. Bagdader Muntada-al-Masrah-Festival ausgezeichnet. Die Rückkehr aus der Hauptstadt nach Irakisch-Kurdistan, von wo seine Gruppe den Rückflug nach Deutschland gebucht hatte, wurde dann aber schwieriger als gedacht. Die Flüge nach Erbil fielen aus, die Gruppe saß fest. Mit acht Europäerinnen auf dem Landweg zu reisen, schien wegen der Entführungsgefahr zu riskant. Also wurde von den Organisatoren des Festivals ein Privatflugzeug versprochen. Tag für Tag warteten die Schauspieler nun auf den Abflug. Tag für Tag wurde er verschoben. Die nächsten Termine in Deutschland drohten zu platzen. In letzter Minute traten sie die Reise doch mit dem Auto an, als Irakerinnen verkleidet.
Dieses Beispiel zeigt ebenso wie das Berliner Warten, dass west-östliche Theatertransfers oft schon organisatorisch eine große Herausforderung sind. Auch die Frage, ob die deutschen Gastspiele überhaupt stattfinden würden, wurde erst in letzter Minute entschieden.
Eine der angekündigten Gruppen konnte nicht anreisen, das Team von Al Azzawi aus Bagdad nur teilweise. Grund war ein Theaterskandal, der sich im Bagdader Nationaltheater abgespielt hatte. Eine in Deutschland arbeitende Butohtänzerin [Butoh ist eine Form des Tanztheaters in Japan, Anm. d. Red.] war dort vor vollem Haus mit bloßem Oberkörper aufgetreten. Der Kulturminister, der bekanntermaßen zugleich Verteidigungsminister ist, habe danach erst einmal alle Finanzen für Auslandsaktivitäten irakischer Bühnenkünstler gestrichen, erzählt Al Azzawi. Nur durch vehemente Maßnahmen und Proteste, einerseits durch den irakischen Parlamentarier Ali Shilakh und den Regisseur selbst, andererseits durch das Theaterhaus Mitte in Berlin und das Goethe-Institut, kam das Festival in Berlin in verschlankter Besetzung dann doch zustande.
Normaler Theaterwahnsinn
Das ist, stark verkürzt und den ganzen Ärger mit den diskriminierenden deutschen Visa-Formalitäten ausgespart, der ganz normale Gastspielwahnsinn, den Veranstalter und Künstler immer wieder in Kauf nehmen müssen. Dafür hätten sie eigentlich auch einmal einen Applaus verdient!
„Übrigens schrieben irakische Medien, die Tänzerin Minako Seki sei gar nicht nackt, sondern mit einem dünnen Trikot bekleidet gewesen“, sagt Ihsan Othmann. „Ich kann das schlecht beurteilen, ich saß ungefähr in der 15. Reihe.“ Ein Publikumsgespräch hätte sicher einiges (er-)klären können. Traditionell präsentiert sich der geisterhaft-minimalistische Butoh oft nur im Lendenschurz und hat dabei trotzdem eine vollkommen asexuelle Ausstrahlung. Auch Seki praktiziert diese Ästhetik, wie Fotos auf ihrer Website belegen. Sie selbst antwortet am Telefon ausweichend auf eine Bitte um Klärung. Das Stück drehe sich um die Manipulation des menschlichen Körpers, sagt sie, und: „Es gab einen unglaublichen Applaus.“
Nun will Ihsan Othmann, um ein Exempel zu statuieren, die Tänzerin nach Erbil einladen. Früher, als er mit dem Schauspiel anfing, wäre das undenkbar gewesen, meint er. Da war Bagdad die unbestrittene irakische Theatermetropole. Inzwischen bringt die politische Stabilität und Liberalisierung in Erbil laut den Theatermachern Aufwind in die dortige, auch heute noch durchaus als folkloristisch eingestufte Theaterlandschaft. „Die Kultur muss kontinuierlich staatlich gefördert werden, damit sie florieren kann“, bekräftigt der Bagdader Sinan Al Azzawi. In Kurdistan sei man übereingekommen, dass eine kulturelle Gesellschaft gewollt ist, im Restirak spiele dagegen die Kulturpolitik eine so diffuse und untergeordnete Rolle, dass die Entwicklungen zurzeit davon gebremst würden.
Für die Ästhetik auf der Bühne hat die Liberalisierung weitere Konsequenzen. So soll, wie Ihsan Othmann als Mitveranstalter weiß, für das nächste internationale Theaterfestival in Erbil die Zensur beinahe komplett aufgehoben werden. Die einzigen Tabus, die bleiben: Die Existenz Allahs anzuzweifeln und Rassismus.
„Diese Fragen hasse ich“
Othmann und Al Azzawi verstehen den Diskurs zwischen Erbil und Bagdad als bereichernd, keiner von ihnen ist Anhänger von separatistischen Bewegungen. Auf die Frage, ob Religion für das Theater eine genauso große Rolle spiele wie für die Politik, winkt Sinan Al Azzawi ab. Religion sei ausschließlich eine Sache der Politik. „Für die Gesellschaft wie für das Theater ist die Glaubenszugehörigkeit eine irrelevante Sache. Ein guter Schauspieler ist ein guter Schauspieler.“ Ein wütender Schnauber entfährt dem Regisseur, als er darauf antworten soll, welcher Religion er angehöre. „Diese Fragen hasse ich“, faucht er und zieht sofort eine seiner komischen Grimassen, wie um sich für seinen Ausbruch zu entschuldigen. Dann sagt er noch etwas über Religion, was nicht geschrieben werden darf.
Der kumpelhafte, enthusiastische Al Azzawi und der betont gelassene Gentleman Ihsan Othmann, sind sich nicht immer einig. So distanziert sich Othmann beim Gespräch über das Theaterstück, das der Bagdader Regisseur in Berlin zeigt, gelegentlich deutlich von dessen Standpunkt. Schon die Auswahl des Stückes „Frauenmelodie“ vom irakischen Autoren Mithal Ghazi findet er fragwürdig, weil er dessen als konservativ empfundene Haltung gegenüber Frauen nicht teilt. Sinan Al Azzawi guckt ironisch, geht aber nicht direkt auf die Position ein.
Stattdessen spannt er den Bogen über das Stück. Zwei Frauen begegnen sich dort: eine brave, konservative Hausfrau und eine Prostituierte. „Und mit Prostituierte ist in diesem Fall das gleiche wie in Deutschland gemeint“, stellt er klar. „In Irak sagt man ja generell von Frauen, die außerehelichen Sex haben, dass sie im Puff leben. Von daher leben in Deutschland alle im Puff!“ Die Handlung des Stückes bildet dann den Dialog zwischen den zwei verschiedenen Frauen ab. Als die Prostituierte schließlich erschossen wird, tauscht die Hausfrau ihren schwarzen Schleier gegen einen weißen aus und geht auf die Straße, um auf das Unrecht aufmerksam zu machen.
Für Al Azzawi ist das ein hoffnungsvolles Ende, Othmann dagegen stört sich daran, dass die Frau bis zuletzt gezwungenermaßen im Ganzkörperschleier unterwegs ist, egal, ob schwarz oder weiß. Vielleicht zeigt diese Kompromisslosigkeit, wie berlinerisch er inzwischen denkt. Für den Bagdader Regisseur befindet sich die irakische Schauspielkunst in einer ähnlichen Situation wie das Nachkriegsdeutschland der 1950-er Jahre: „Erst muss die Ideologie der Gesellschaft geändert werden. Das ist das Lehrtheater. Danach kommt die wirkliche Kunst.“
Vielleicht muss man nur lang genug darauf warten. Gespannt kann unterdessen auch auf das nächste internationale Theaterfestival im Herbst 2013 in Erbil gewartet werden.
Astrid Kaminski
© Qantara.de 2013
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de