Drohungen statt Aufklärung

Vergiftungen von Schülerinnen im Iran: Bislang wurden landesweit mehr als 3.100 Vergiftungsfälle an Schulen berichtet.
Vergiftungen von Schülerinnen im Iran: Bislang wurden landesweit mehr als 3.100 Vergiftungsfälle an Schulen berichtet.

Das iranische Regime will die Vergiftungen an Mädchenschulen hart bestrafen. Nicht zum ersten Mal sind das leere Formeln und die Taten werden geduldet – mindestens. Eine Analyse von Ali Sadrzadeh

Von Ali Sadrzadeh

Seit der ersten Meldung über den Gifteinsatz in einer Mädchenschule in der Stadt Ghom, Zentrum der schiitischen Gelehrsamkeit im Iran, sind drei Monate vergangen. Betroffen sind inzwischen fast alle Provinzen und Hunderte Städte des Landes, hauptsächlich Mädchenschulen sind bevorzugte Ziele dieser Attacken.

Mohammad Reza Hashemian ist ein anerkannter Anästhesist und Intensivmediziner im Teheraner Klinikum Massih Daneschvari, dem Vorzeigekrankenhaus der Islamischen Republik. Als in der vergangenen Woche die landesweite Vergiftung der Mädchen auch die Hauptstadt erreichte, erzählte der Mediziner seine Beobachtung der Tageszeitung Ham Mihan. Die Mädchen hätten nach der Gasfreisetzung den Geruch von faulen Eiern wahrgenommen, der in schwefelhaltigen Gasen vorkomme. In den vergangenen Tagen hörte man auch Studierende, die ebenfalls über den Geruch von faulen Mandarinen oder Vitex-Pflanzen sprachen. Jeder dieser Gerüche weise auf kombinierte Gase hin, die subtil und intelligent zusammengesetzt worden seien. Der Zugang zu diesen Gasen sei für normale Menschen nicht möglich, obwohl sie für Anästhesie oder Laparoskopie verwendet würden, sagte der Mediziner.

Erst an diesem Montag, nachdem die Mehrheit der Bevölkerung in den vergangenen drei Monaten längst ihren eigenen Schluss gezogen hat, nach dieser gefühlten Ewigkeit, in der die ganze Welt weiterhin rätselt, wer hinter dieser Barbarei stecken könnte, erst jetzt sagte der geistliche Führer des Iran, Ajatollah Ali Chamenei, bei einer Zeremonie ganz nebenbei und am Ende einer langen Ansprache, die Sicherheitskräfte sollten schnell die Hintergründe dieser Vergiftungen klären und die Täter hart bestrafen.

Opfer der Vergiftungswelle werden landesweit in Krankenhäusern behandelt. (Foto: borna)
Proteste und Festnahmen nach mysteriösen Massenvergiftungen an Mädchenschulen: Auf der Grundlage von "Erkenntnissen der Geheimdienste" habe es Festnahmen in fünf Provinzen gegeben, teilte der stellvertretende iranische Innenminister Madschid Mirahmadi im Staatsfernsehen mit. Zur Identität der Festgenommenen und ihrer mutmaßlichen Rolle bei den Vergiftungen machte er keine Angaben. Iranische Medien haben inzwischen über mehr als 3100 Vergiftungsfälle an Schulen berichtet. Dies ergab eine Auswertung von Berichten, die von November bis Anfang März in iranischen Medien erschienen. Offizielle Behördenzahlen zum Gesamtausmaß der Vergiftungswelle gibt es derzeit nicht.

"Was die Sicherheit angeht, da beneiden uns alle"

Über die Glaubwürdigkeit dieses Auftritts und der späten Reaktion des mächtigsten Mannes im Land lässt sich lange debattieren. Ähnlich aufregende Vorfälle gab es in Chameneis Republik in der Vergangenheit oft und zuhauf. Und immer nach einer langen Weile des Schweigens gab es auch ähnliche Auftritte von ihm mit fast gleichen Forderungen, die dann in Vergessenheit gerieten.

Die Islamische Republik leistet sich etwa 17 Geheimdienste. Sie rühmen sich alle, alles und jeden unter Kontrolle zu haben. "Uns mag vieles fehlen, aber was Sicherheit angeht, da beneiden uns alle in unserer unsicheren Region" – das ist ein Mantra, ein Markenzeichen, das alle Propagandaorgane dieser vermeintlichen Republik ununterbrochen vor sich her tragen.

Und sie beweisen zur Genüge, dass sie tatsächlich mächtig sind, wenn sie es wollen. Mit ihren chinesischen Überwachungskameras und -methoden sind sie in der Lage, einer Frau, die am Steuer eines Wagens ihr Kopftuch nicht züchtig genug getragen hat, eine SMS zu schicken und ihr bei Wiederholung mit einer Geldstrafe zu drohen. Und diese Geheimdienste sollen von diesen drei Monate andauernden landesweiten Angriffen auf Mädchenschulen nichts mitbekommen haben, auf Einrichtungen, die fast alle mit Überwachungskameras ausgerüstet sind?

Verhaftet werden Journalisten, keine Täter

Im Herbst 2015 griffen in der Stadt Isfahan innerhalb weniger Tage Motorradfahrer 15 Frauen in ihren Wagen mit Säure an. Alle diese Frauen hatten ihre Kopftücher nicht züchtig genug getragen. Entstellung, Erblindung und in einigen Fällen auch der Tod waren Folgen dieser Attacken, die das ganze Land und vor allem die Frauen in Angst und Aufregung versetzten. Monatelang waren diese Säureangriffe Hauptthema in den sozialen Medien, ausländische Zeitungen berichteten darüber, doch Chamenei schwieg und die versprochene Aufklärung seiner Untergebenen blieb folgenlos. Dafür verhaftete man jenen Fotojournalisten, der die ganze Barbarei dokumentiert hatte.

 

Seit Monaten kommt es im Iran zu Vergiftungen an Mädchenschulen. Dass ausgerechnet sie Ziel werden, wundert die Forscherin Azadeh Akbari. Wer könnte dahinterstecken? https://t.co/cVKMGT8vaJ pic.twitter.com/fwYBkeT2YG

— ZEIT ONLINE (@zeitonline) March 7, 2023

 

Chamenei schwieg auch über die sogenannten Kettenmorde der Neunzigerjahre, die das Land und vor allem die Intellektuellen monatelang in Atem hielten. Zu Zeiten des Reformpräsidenten Mohammad Chatami wurden in wenigen Wochen Dutzende bekannte Schriftsteller und Dissidenten verschleppt und ermordet. Wie ein Oppositionsführer forderte der machtlose Präsident öffentlich eine Aufklärung, doch die Hintermänner blieben unbekannt. Seitdem sind Kettenmorde in der Islamischen Republik ein stehender Begriff.

Von einer Verhaftung eines mutmaßlichen Täters der jüngsten Vergiftungen ist bis zur Stunde nichts bekannt, dafür meldeten die Nachrichtenagenturen unmittelbar nach Chameneis Rede am vergangenen Montag, der Zeitungsjournalist Ali Pourtabatabi, der als Erster in Ghom über die Vergiftung der Mädchen berichtet hatte, sei verhaftet worden. Am selben Tag drohte auch der mächtige Justizchef all jenen Journalisten, die über diese Fälle abweichend von offiziellen Verlautbarungen etwas schreiben sollten.

"Feuer frei"

In welchen Kreisen die Täter zu suchen sind, bedarf keiner besonderen Gabe.

"Sie wissen sicherlich, was آتش به اختیار (Feuer frei) bedeutet", sagte Chamenei vor drei Jahren in einer berühmten Rede seinem Publikum, einer ausgewählten Basidschi-Gruppe, den freiwilligen Paramilitärs des Regimes. Der Begriff komme vom Krieg, so der Ajatollah, aber auch im Schlachtfeld des kulturellen Krieges müsse man oft nach der Devise "Feuer frei" handeln, denn manchmal könne oder wolle die Regierung aus bestimmten Gründen kulturell nicht offensiv sein. Diese Rede steht immer noch auf Chameneis Website.

 

 

Am vergangenen Freitag sagte Ajatollah Ahmad Alamolhoda, der Schwiegervater des Präsidenten Ebrahim Raissi und Freitagsprediger der Stadt Maschhad, den Sicherheitskräften des Landes sei die Kontrolle der Hidschab entglitten, die Zeit des Handelns der wahren Gläubigen sei gekommen.

Für Hatam Ghaderi, bekannter Politologieprofessor der renommierten Teheraner Universität Tarbiat Moddaress, haben diese Gasattacken weitreichende Konsequenzen für die nahe Zukunft des ganzen Landes. In einem BBC-Interview sagte der 66-Jährige am Montagabend, der Iran sei in diesen Tagen an einem historischen Wendepunkt angekommen. Das System der Islamischen Republik sei mit multiplen innen- und außenpolitischen Krisen konfrontiert, die fast unlösbar schienen. Hinzu komme die Mutter aller Krisen, die das Land demnächst zu erwarten habe, nämlich die um Chameneis Nachfolge. Es sei durchaus denkbar, dass bestimmte Kreise an der Spitze der Macht sich für den Tag der Tage vorbereiteten – und deshalb Angst und Unsicherheit verbreiteten. Hatami ist ein seriöser Wissenschaftler, der bis jetzt Universitätsdozenten ausgebildet hat.

Ali Sadrzadeh

© Qantara.de 2023

Ali Sadrzadeh hat Psychologie, Germanistik und Politik studiert. Die iranische Revolution 1979 hat er im Iran miterlebt. Seit Anfang der Achtziger Jahre arbeitet Sadrzadeh als Journalist, zunächst für die dpa und die Frankfurter Rundschau, später für den Hessischen Rundfunk, unter anderem als Hörfunk-Korrespondent der ARD in Afrika.